Bayern 2

     

radioTexte am Dienstag Früher war die Zukunft (3/3)

Autor Oskar Maria Graf | Bild: picture-alliance / Mary Evans Picture Library

Dienstag, 09.02.2021
21:05 bis 22:00 Uhr

  • Als Podcast verfügbar

BAYERN 2

In dieser Reihe entwerfen Schriftsteller und Sinnsucher aus verschiedenen Jahrhunderten unterschiedliche Lebensmodelle und Zukunftsvisionen zwischen Utopie und Science-Fiction als Alternative zu den herrschenden Verhältnissen. Mit Texten von Edward Bellamy und Oskar Maria Graf. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags können wir diese Lesung bis zum 16.02.2021 anbieten.

Der englische Humanist Thomas Morus prägte den Begriff "Utopia", mit dem er seinen idealen Staatsentwurf bezeichnete. Wörtlich bedeutet "Utopia" "Ortlosigkeit". Die Bezeichnung enthält bereits das Eingeständnis dessen, was dem Utopisten von seinen Gegnern zum Vorwurf gemacht wird. Er steht nicht mit beiden Füßen auf der Erde oder auf dem Boden der Tatsachen. Als Beispiel einer literarischen Utopie ist ein Text aufschlussreich, der nachweislich aus einer Situation tiefer innerer Bedrängnis entstanden ist. Heute wissen wir, dass das umfangreiche Werk von Karl May ein großangelegter Fluchtversuch aus der langen und harten Gefängnisstrafe war, die der Autor zu erleiden hatte. In Mays "Sitara - das Land der Sternenblumen" herrscht die Sultanin Marah Durimeh. Zu "Sitara" gehört auch das in "Babel und Bibel" beschriebene Gebiet von Märdistan, "in dessen Schlucht, die Geisterschmiede liegt, in der die Seelen durch Schmerz und Qual zu Stahl und Geist geschmiedet werden." Bereits 1602 formuliert der Dominikaner Tommaso Campanella in seinem "Sonnenstaat" bestimmte, sozialistisch anmutende Regeln für das Zusammenleben in einem theokratisch regierten Staatswesen, an dessen Spitze der Sonnenpriester Metafisico steht. Der historische Bergerac hieß eigentlich Hector Savinien de Cyrano. Geboren wurde er 1619 in Paris, wo er 1655 auch starb. In seinen Romanen "Mondstaaten und Sonnenreiche" schwankt Cyrano zwischen Utopie und Science-Fiction: Der Ich-Erzähler berichtet von seiner Fahrt zum Mond und zur Sonne, von seinen Erlebnissen und Gesprächen mit deren Bewohnern. In seiner 1771 erschienenen Utopie "Das Jahr 2440" stellt Louis-Sébastien Mercier die gesellschaftlichen Zustände unter Ludwig XV. an den Pranger und plädierte für eine menschlichere Justiz. Mit seinem satirischen Roman "Ergindwon" wandte sich Samuel Butler gegen die Doppelmoral seiner Zeitgenossen und kritisierte den ungebrochenen Fortschrittsglauben der viktorianischen Ära. Der bekannteste Roman des amerikanischen Journalisten und Sozialreformer Edward Bellamy trägt den Titel "Rückblick aus dem Jahr 2000 auf das Jahr 1887". Julian West, der Held der Geschichte, leidet an Schlaflosigkeit und lässt sich hypnotisieren, um in einem schalldichten Schlafzimmer Ruhe zu finden. Erst im Jahr 2000 wird er aus seinem Verlies geborgen und erweckt. Das eigentliche Ziel des Autors ist der Gegenentwurf zu den damals herrschenden Verhältnissen in den USA. Mitten im Zweiten Weltkrieg versuchte sich Oskar Maria Graf als Utopist. In seinem Buch "Die Erben des Untergangs. Roman einer Zukunft" aus dem Jahr 1959 entwirft er eine Zukunftsvision über das Verhältnis von Mensch und Natur. Grafs futuristisches Szenario ist radikal und optimistisch zugleich. Sein Siedlungskonzept "Agrostadt" garantiert ein menschenwürdiges Dasein - und zwar durch die gnadenlose Unterwerfung der Natur.