Nachtstudio Fremd sind wir uns selbst
Dienstag, 06.07.2021
20:05
bis 21:00 Uhr
- Als Podcast verfügbar
BAYERN 2
Versuch über die Ethik der Appropriation
Von Jens Balzer
Als Podcast und in der neuen Bayern 2 App verfügbar
Kulturelle Aneignung, "cultural appropriation": Das ist gegenwärtig ein erregt umkämpfter Begriff. Weiße Menschen tragen Rastalocken, Geisha-Kostüme oder „Indianerschmuck“ oder wollen Gedichte von Schwarzen Menschen übersetzen - und werden dafür scharf kritisiert und beschämt: weil sie als Angehörige einer herrschenden, kolonialen Kultur sich an den Erzeugnissen ärmerer und oftmals rassistisch diskriminierter Menschen bereichern. Diese Kritik ist unmittelbar nachzuvollziehen - einerseits. Doch lässt sich andererseits überhaupt keine Kultur vorstellen, die nicht aus der Aneignung vorgefundener, "fremder" kultureller Formen erwächst. Ohne Appropriation gibt es keine kulturelle Beweglichkeit, keine Entwicklung, kein Leben. Wie kann man zwischen "richtiger" und "falscher" Appropriation unterscheiden? Das ist die Frage, um die dieser Radio-Essay sich dreht. Dazu wenden wir den Blick zurück in die Geschichte. Denn in der postkolonialen Theorie der Achtziger- und Neunzigerjahre war Appropriation noch ein positiv besetzter, emanzipatorischer Begriff: Autoren wie Édouard Glissant und Paul Gilroy feierten die kulturelle Hybridität des "Black Atlantic", das endlose Spiel der Appropriation in der "archipelischen" Gegenmoderne der schwarzen Diaspora. Und feministische Theoretikerinnen wie Judith Butler begriffen die Appropriation "fremder" sexueller Rollenmodelle - etwa im Drag - als Subversion überkommener Vorstellungen von Authentizität und Originalität, von vorgeblich "natürlichen" sexuellen und sozialen Identitäten. Wie kann man die politischen Positionen und philosophischen Einsichten aus dieser Zeit für die Debatten der Gegenwart nutzen? Wie können wir zu einer Ethik der Appropriation gelangen, die sich weder in Dogmen und Verbotsdebatten erschöpft - noch die Machtverhältnisse leugnet, unter denen sich kulturelle Ausbeutung vollzieht? Wie können wir Respekt vor dem Fremden zeigen - und zugleich die fundamentale Einsicht bewahren, dass es kein "Eigenes" gibt ohne die Aneignung dessen, was uns als Fremdes entgegentritt und unsere Identität im Fluss hält und prägt?