Unvergleichlich schwerelose Sprache Helle Helle: "Wenn du magst"
Roar hat sich bei seinem ersten Waldlauf total verirrt und muss mit einer fremden Joggerin die Nacht draußen zubringen. Was die beiden aus der Extremsituation machen, schildert die dänische Autorin in ihrer unvergleichlich schwerelosen Sprache.
"Lieber ein bisschen zu wenig als zu viel sagen, das ist meine Art zu schreiben."
Helle Helle
Ein Hauch des Unergründlichen
Dass Frau Helle nicht endlose Wortkaskaden aus dem dänischen Himmel schneien lässt, weiß ihr Publikum. Dass ihre Plots weder vor Action bersten noch aus komplizierten Handlungssträngen gestrickt sind, ist ebenfalls bekannt.
Helles Markenzeichen sind ihre unvergleichlichen Frauenfiguren, die einen in jede Geschichte hineinziehen. Wobei diese auch am Ende immer ein Hauch des Unergründlichen umweht und man nicht genau sagen kann, was eigentlich ihr Faszinosum ausmacht.
So geht es auch Roar, dem Endvierziger, der allerdings zunächst ganz mit sich selbst beschäftigt ist und sich nicht wiedererkennt.
"Das bin nicht ich. Niemals sitze ich mit so einer schlafenden Frau im Wald. In Decken eingepackt, durchgefroren in Laufschuhen. Ihre dünnen Haare kleben an den Wangen, die Nase ist rotblau. Etwas scharrt und schlägt draußen, sie öffnet die Augen, sieht mich an. Guten Morgen. Hast du noch Zehen?, sagt sie."
Ausschnitt aus dem Buch
Ohne Dramatik
Dem in Literatur und Kino oft durchgespielten Motiv - ungleiche Charaktere sind in einer Extremlage aufeinander angewiesen - fehlt hier erkennbar die Dramatik. Trotzdem wirkt Roar überfordert - von den vielen Dingen, die nicht so recht klappen, während er sie zum ersten Mal macht: Laufschuhe kaufen, Joggen, sich in unbekanntem Gelände orientieren, eine Fremde beschützen, die sich wie er verirrt hat.
Begegnung im Wald
Der Ich-Erzähler bereut bald seinen spontanen Entschluss, die gepflegte Langeweile einer Tagung auf dem Land, für einen Waldlauf zu verlassen. Schuhe unterschiedlicher Größe bescheren ihm eine schmerzende Blase am Fuß, im Nu hat er sich verfranzt. Und trifft auf sie: eine Frau, die zwar zehn Jahre jünger ist, aber offenbar zehnmal mehr erlebt hat als Roar. Ihr Trinkwasser ist bald aufgebraucht, die beiden retten sich in eine Schutzhütte.
In solchen Pausenphasen wechselt die Erzählsituation, und wir erfahren, wie das oft unstete Leben der Frau bislang verlaufen ist, das sie nahm, wie es eben daherkam, auch wenn es nicht ihr Ideal war:
"Wenn sie an einem hellen Sommerabend in dem nahegelegenen Wohnviertel spazieren ging und durch eine Hecke oder über einen der zahlreichen Weidenzäune sah, konnte sie durchaus den Wunsch verspüren, dort drinnen zu sitzen, mitten im Grillrauch. Oder im Winter, an einem Sonntag am späten Nachmittag, wenn in den Häusern Licht brannte und sie einen Blick auf kleine Füße auf einem Sofa erhaschte, oder auch nur auf einen unaufgeräumten Fußboden. Dann konnte sich in ihr ein Sehnen bemerkbar machen."
Ausschnitt aus dem Buch
Spannung bis zum Schluss
Wo diese Frau, von der wir nur vage den Nachnamen kennen, wohl am glücklichsten ist? In der fast symbiotischen ersten Wohngemeinschaft, nach dem zufälligen Wiedersehen mit ihrer unerfüllten Jugendliebe Christian oder hier in der rauen Natur mit dem verirrten Fremden? Während Roar eher unscharf bleibt, hält das Schicksal der Namenlosen den Erzählfluss und die Spannung aufrecht. Man will unbedingt wissen, wie es mit ihr weitergeht, ob und wie die beiden nach einer weiteren Nacht im Wald in die Zivilisation zurückfinden, ob da mehr ist als gegenseitige Hilfe in einer unverhofften Notlage...
So geht Suspense aus Skandinavien à la Helle Helle: ganz ohne zerstückelte Leichen, kaputte Polizisten oder krude Verschwörungstheorien.
Dörlemann Verlag. Deutsch von Flora Fink