Gilles Kepel "Der neue Dschihad in Europa"
Frankreich steht unter dem Eindruck von Terror und Terrorbekämpfung. Der Soziologe Gilles Kepel untersucht die Ursachen der Dschihadismus im Land, das Erstarken des Salafismus und den wachsenden Einfluss des Front National.
Schon mehrmals musste Gilles Kepel dieses Buch in letzter Minute aktualisieren. Als am 13. November 2015 dschihadistische Killer Pariser Cafés und den Musikclub Bataclan in ein Blutbad verwandelten, war seine Analyse zum "Terror in Frankreich" gerade auf dem Weg in die Druckerei. Und auch die deutsche Ausgabe ergänzte Kepel nun um ein aktuelles Vorwort, geschrieben im Juli, nach den Attentaten von Nizza, Würzburg und Ansbach. Wie die Massaker in Paris und Brüssel waren es Angriffe eines "Dschihadismus der dritten Generation", dessen Genese Gilles Kepel in seinem Buch ausführlich beschreibt und analysiert.
Dezentral organisierter Terrorismus
Anders als die von Al Kaida-Chef Osama Bin Laden orchestrierten und bezahlten Anschläge vom 11. September 2001, organisiert sich der aktuelle Terror dezentral und netzartig. Seine Akteure sind meist junge Männer, Franzosen und Belgier, die aus muslimischen Migrantenfamilien stammen oder zum Islam konvertierten. Der "neue Dschihad in Europa" entwickelte sich weitgehend unbeachtet von den Sicherheitsbehörden, sagt Gilles Kepel.
"Diese dschihadistische Kulturrevolution wurde verpasst. Bis zu den Terrorangriffen von Toulouse 2012, als der Franko-Algerier Mohammed Merah französische Soldaten und jüdische Schulkinder tötete, agierten die Geheimdienste so, als wäre ihr Gegenüber immer noch die pyramidale Kampfmaschine von Bin Laden, der die Befehle gab zum Angriff. Es gelang ihnen zwar, Kommunikationswege und Geldtransfers zu stören. Aber sie verpassten die Weiterentwicklung des dschihadistischen Terrormodells."
Gilles Kepel
Rekrutierung der "schlecht Integrierten"
Für Gilles Kepel ist das Jahr 2005 ein Schlüsselmoment dieser Entwicklung. In diesem Jahr erschien im Internet ein langer Text, in dem Kepel das theoretische Fundament des neuen Dschihadismus sieht: Der "Aufruf zum weltweiten islamischen Widerstand", verfasst von Abu Musab Al-Suri, einem syrischen Dschihadisten mit spanischer Staatsbürgerschaft, der in Frankreich studiert hatte. Al-Suri kritisiert den spektakulären Angriff auf die USA vom 11. September als Hybris, als Überheblichkeit des Terrorfürsten Bin Laden. Stattdessen ruft er dazu auf, aus dem - so wörtlich - "schlaffen Bauch Europas" heraus die westlichen Gesellschaften direkt anzugreifen und dafür "schlecht integrierte" Jugendliche zu rekrutieren.
"Diese Texte wurden damals nicht ernst genommen, weil sie überzogen schienen. Ich hatte sie 2008 übersetzt, aber niemand interessierte sich auch nur im Geringsten dafür. Im Nachhinein wird klar: Der Dschihadismus der dritten Generation, wie er dort definiert wurde, ist heute der Schlüssel zum Verständnis des Dschihad in Europa, zusammen mit den Ereignissen in Syrien natürlich. Die meisten jungen Leute, die heute in Frankreich, in Deutschland oder in Syrien Menschen töten, kennen den Namen Al-Suri vermutlich nicht. Aber entscheidend sind die Spuren dieses Denkens, das in den Sozialen Netzwerken und in Videos recycelt wurde und so die ideologische Basis dessen wurde, womit wir heute leben."
Gilles Kepel
Soziale Unruhen in Frankreich
Dass die neue Dschihad-Ideologie sich besonders in Frankreich so viral verbreiten konnte, sieht Gilles Kepel im Zusammenhang mit einem weiteren einschneidenden Ereignis im Herbst des Schlüsseljahrs 2005: Den wochenlangen Unruhen in den Banlieues, den trostlosen Vororten französischer Großstädte, wo Arbeits- und Perspektivlosigkeit den Alltag besonders muslimischer Jugendlicher aus Migrantenfamilien prägen. Als Auslöser der Krawalle gilt der Tod von zwei Jugendlichen im Pariser Vorort Clichy-sous-Bois. Sie starben durch Stromstösse in einem Transformatorenhäuschen, in das sie sich vor der Polizei geflüchtet hatten. Kepel allerdings sieht den tragischen Tod der zu Unrecht als Einbrecher verfolgten Jugendlichen nicht als das entscheidende Ereignis. Folgenreicher sei während der Unruhen ein Polizeieinsatz gewesen, bei dem eine Tränengasgranate vor dem Eingang einer Moschee landete.
"Die Türen waren geöffnet. Die Menschen drinnen bekamen keine Luft mehr. Und dieser Zwischenfall wurde dann im Internet und durch Mund-zu-Mund-Propaganda als absichtlicher Angriff der französischen Armee gegen betende Muslime interpretiert. DAS war dann der Grund, weshalb die Unruhen so eskalierten."
Gilles Kepel
Detailliert beschreibt der Soziologe Kepel, wie sich die französische Gesellschaft seit dem Schlüsseljahr 2005 verändert hat. Wie Wirtschaftskrise und soziale Ausgrenzung junge Franzosen empfänglich machten für die Heilsversprechen eines radikalen Islam. Wie der Salafismus an Einfluss und gleichzeitig der rechtsextreme Front National Wählerstimmen gewann – und wie sich beides wechselseitig bedingte. Und wie auch die koloniale Vergangenheit Frankreichs den "Dschihadismus der dritten Generation" prägte. Kepel spricht von einer "retrokolonialen" Dimension des Terrors in Frankreich.
"Ein schreckliches, symbolträchtiges Beispiel dafür ist der Beginn der dritten Phase des Dschihads: Als Mohamed Merah, Sohn einer algerischen Familie, die Frankreich hasste, jüdische Schulkinder in Toulouse tötete. Und zwar am 19. März 2012. Exakt am 50. Jahrestag des Waffenstillstands, mit dem der Algerienkrieg endete. Vielleicht war ihm das nicht bewusst, ich weiß das nicht, er ist tot. Aber es ist ein wichtiges Symbol, denn Merah begann einen neuen Algerienkrieg, nur diesmal auf französischem Boden."
Gilles Kepel
Kritik an schlichten Erklärungen
Kepel analysiert die vielfältigen Ursachen des Terrors in Frankreich in ihrer ganzen Komplexität. Er stützt sich dabei sowohl auf seine Kompetenz als Orientalist und Kenner der arabischen Welt als auch auf seine soziologischen Studien vor Ort, in den Hochburgen des französischen Dschihadismus.
Das Buch
Gilles Kepel: "Terror in Frankreich. Der neue Dschihad in Europa", 352 Seiten, Verlag Antje Kunstmann, 24,00 Euro
Dabei spart er nicht mit – gelegentlich auch polemischer – Kritik an jenen, die diese Komplexität leugnen, allen voran: Die Politiker, die die Erkenntnisse seiner universitären Forschung ignorierten im "Kampf gegen den Terror". Im letzten Kapitel zeichnet Kepel (unter der Überschrift "Zwischen Kalaschnikow und Martell") das düstere Bild einer französischen Gesellschaft im zerstörerischen Zangengriff zwischen dschihadistischem Terror und identitärem Rechtsextremismus: "Man hat das Gefühl, dass sich ein Bruch vollzieht. Ein omnipräsenter Argwohn, der Gefahr läuft durch die Provokationen auf allen Seiten zu einer Art verkapptem Bürgerkrieg zu werden." Gilles Kepels nächstes Buch, das im November in Frankreich erscheint, trägt den Titel "La fracture" – "Der Bruch".
Diwan
Für das Bayern 2-Büchermagazin hat Katrin Hondl das neue Buch von Gilles Kepel gelesen.
Samstag, 10. September, 14:05 Uhr (Wiederholung 21:05 Uhr).