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Buchtipps und Aktuelles aus der Verlagsbranche "Wie man einen Bären kocht" von Mikael Niemi

Jede Menge Buchtipps und Lesestoff liegen auf dem Diwan bereit. Nach Guadeloupe über Pajala bis nach Aleppo entführen die Romane im Büchermagazin auf Bayern 2. Aus dem hohen Norden Europas, aus dem schwedischen Pajala, einem kleinen Ort nördlich des Polarkreis gelegen, meldet sich Mikael Niemi mit seinem Buch "Wie man einen Bären kocht". Außerdem die neue Biografie der alternativen Literaturnobelpreisträgerin Maryse Condé, eine Familiengeschichte aus Aleppo von Khaled Khalifa, "Die Lieblinge der Justiz" von Juri Andruchowytsch und Aktuelles aus der Verlagswelt in viralen Zeiten.

Von: Cornelia Zetzsche

Stand: 03.07.2020 | Archiv

Polarlicht im Norden Schwedens | Bild: picture-alliance/dpa

"Wie man einen Bären kocht"

"Hallo hallo! Ich bin Mikael Niemi. Ich lebe in einem kleinen Ort, weit weit oben im Norden in Pajala, 100 Km nördlich des Polarkreises. Und ich sitze hier und schreibe Romane und sende Grüße an meine Leser/Innen in Bayern", so meldete sich der Schriftsteller Mikael Niemi aus einem kleinen Studio im hohen Norden, froh, dass er in Corona-Zeiten per Leitung über seinen neuen Kriminalroman sprechen konnte. Die Lesereise durch Europa ist abgesagt.

"Ich verschwinde, wann immer ich will. So ist das mit dem wandernden Volk. Jetzt bin ich hier, und im nächsten Moment bin ich dort. Ich stelle mich auf meine Beine, schnappe mir den Ranzen und gehe. Ganz einfach. Ist man arm, kann man so leben. Alles, was ich besitze, trage ich bei mir. Ich gehe leichten Fußes schnell dahin, noch bevor mich jemand vermisst, bin ich schon im nächsten Flusstal. Ich hinterlasse keine Spur."

aus: 'Wie man einen Bären kocht', übersetzt von Christel Hildebrandt, btb

Schriftsteller Mikael Niemi

Mikael Niemi: "Das ist eine meiner Lieblingspassagen in meinem neuen Buch. Ich gehe gern in den schwedischen Bergen wandern, in der wilden Natur. Und ich mache das genauso. Und auch meinen Kindern habe ich das beigebracht: hinterlaßt keine Spuren, nicht mal einen Fußabdruck. Wenn Ihr an einen See kommt, an einen Sumpf, laßt keinen Fußabdruck zurück. Es ist wunderschön, Teil der Natur zu sein, Teil der Erde. Als Schriftsteller tue ich genau das Gegenteil, man schreibt, um Spuren in der Welt zu hinterlassen."

Cornelia Zetzsche: "Im Zentrum Ihres neuen Romans steht wie so oft eine Persönlichkeit aus dem hohen Norden. Laestadius, ein Pastor, eine der prominentesten Figuren aus Pajala, dessen Haus und Denkmal nur einen Steinwurf von dem Ihrigen entfernt ist. Wie man einen Bären kocht ist auch ein Bildungsroman über Jussi, einen Sami-Jungen, der den armseligen Lebensbedingungen seiner Eltern entfloh und im Haus dieses Pastors Zuflucht fand. Der historische Roman erzählt von Hunger, von Gewalt, Alkoholismus und der Feudalgesellschaft im 19. Jahrhundert. Aber auch von Liebe und Menschlichkeit, von Neugier und Entdeckungen, von Wissenschaft und Technologie. Warum wollten Sie von diesem Pastor erzählen?"

Mikael Niemi: "Ich war wirklich so fasziniert von Laestadius. Er war intellektuell und strikt gegen Alkohol. Er interessierte sich sehr für Botanik, vor allem für die Blumen hoch im Norden. Er war konservativ und zugleich streitlustig vor der Obrigkeit. Eine komplexe Figur, ein großartiger Intellektueller und ein wirklich großartiger Lehrer."

"Sie beschreiben ihn als Führer einer Erweckungsbewegung?!"

Lars Levi Læstadius (1800-1861) | Bild: wikimedia

Lars Levi Læstadius (1800-1861)

"Er war der zweite Sohn einer sehr sehr armen Familie. Sein Vater war dem Alkohol verfallen und schlug die Jungs. Laestadius hatte eine harte Kindheit. Von seinem älteren Bruder lernte er Lesen und Schreiben und Latein. Es gab keine Schulen, er hatte kein Geld, kämpfte ums Überleben und gründete eine Erweckungsbewegung. Der Tod seines Sohnes Livi war ein schwerer Schlag. Er fragte sich: Wer bin ich? Was ist der Sinn des Lebens? Und begann, auf eine neue Art zu predigen. Die Sprache seiner Predigt war härter, stärker, rauer, provokanter. Er provozierte die Leute und erweckte sie zugleich. Er war voller Liebe und Wärme und gründete damit eine religiöse Bewegung, die sich im Norden ausbreitete, bis heute, in Nordschweden, Finnland, Norwegen, sogar in den USA."

"Sie sprechen über Laestadius. Aber Sie bringen auch eine zweite Figur ins Spiel, Jussi, den vernachlässigten Sami-Jungen, dessen Leute auf der untersten Stufe der schwedischen Gesellschaft stehen, 170 Jahre ist das her."

"Ich wollte über Laestadius schreiben, aber es schien schon alles über ihn geschrieben. Dann hatte ich die Idee, was, wenn er einen Freund oder eine andere Person an seiner Seite hätte, mit der ich mich identifizieren könnte. Und so erfand ich diesen Jussi, diesen kleinen, armen Jungen, nicht so schlau wie Laestadius. Er erzählt die Geschichte. Ich liebte ihn von Anfang an, er tat mir leid. Vielleicht hat er etwas von mir als Teenager. Ich hatte Probleme mit der Liebe, fühlte mich als Nichts in der Welt. Ich hatte Ziele, aber es war ein weiter Weg, bis ich Schriftsteller wurde. Ich identifizierte mich mit Jussi, im Buch ist er 18, 20, 21 Jahre alt."

"Und warum machten Sie ihn zum Sami?"

Sami-Familie anfang des 20. Jahrhundert vor ihrer Kote

"Es ist das Gebiet der Sami. Das ist normal, nichts Besonderes. Ich versuchte, diese arme Welt, diese arme Gegend einzufangen. Die Sami waren die Ärmsten und hatten damals die härteste Zeit. Vielleicht wählte ich Jussi deshalb. Wenn man einen kleinen Bauernhof hatte, konnte man kleine Dinge anbauen. Man hatte eine Kuh und bekam etwas Milch. Aber als Sami, als Nomade, hatte man eine harte Zeit, wenn sich das Wetter änderte, wenn das Rentier starb, das Leben war unsicherer."

"Sie erwähnen, wie schlecht die Sami damals behandelt wurden und erzählen von einer Phase der Kolonisierung."

"Es war die Zeit, als die Sami durch Taufen demütig gemacht werden sollten, um der schwedischen Regierung zu gehorchen. Und es ist wichtig, daran zu erinnern, daß auch Laestadius Teil dieses Kolonialismus war. Wir sehen, wie er Jussi registrieren läßt, wie er ihn tauft, ohne ihn zu fragen, er brachte ihn zum christlichen Glauben, änderte seinen Namen in einen, der Schwedisch klang, und das passierte mit vielen Menschen im Norden. Ihre Namen wurden in den Kirchenbüchern einfach geändert."  

"Wie man einen Bären kocht" ist eigentlich eine Kriminalgeschichte. Als in Kengis Verbrechen an jungen Frauen geschehen, erklärt der Gendarm, ein Bär sei schuld und tötet ihn. Dann wird der Priester zu Sherlock Holmes oder Pater Brown oder zu Don Camillo, und Jussi wird sein Watson. Warum haben Sie dieses Sherlock Holmes-Szenario gewählt?"

Mikael Niemi | Bild: picture-alliance/dpa

Erschienen bei btb in der Übersetzung von Christel Hildebrandt

"Bei dieser Idee, mußte ich laut lachen. Ich dachte, ich kann nicht über Laestadius schreiben und ihn nur Leichen finden lassen, da oben im Norden. Aber mit dieser Kriminalgeschichte kann ich etwas von der Bildung erzählen, wie man Lesen und Schreiben lernte, wie man Technologien und Wissenschaft anwandte. Und das ist die zweite Geschichte, hinter dem Kriminalfall. Was geschah zu dieser Zeit im Norden? Wie veränderten sich die Menschen?
Ich habe selber Analphabeten in meiner Familie zu dieser Zeit, das fand ich in den Kirchenbüchern. Das ist gerade mal 150 Jahre her, und nun sitze ich hier und bin Schriftsteller, und trage ihre Spuren mit mir. Als Kind lehrten mich mein Vater und meine Mutter Lesen und Schreiben. Aber auch, wie man im Wald Feuer macht, wie man in der Wildnis überlebt, Vögel beobachtet, Tiere aufspürt, solche Dinge, wie man schweigt im Wald, auch das habe ich von ihnen.
Jussi wollte keine Spur hinterlassen, er wollte leben, wie die Luft, die er atmete, und in der Luft verschwinden. Und der Priester war genau das Gegenteil. Er fand eine Blume und gab ihr einen lateinischen Namen, damit sie für immer in den Botanik-Büchern existieren konnte. So, wie ich heute Bücher schreibe und hoffe, von mir bleibt etwas über mein Lebendende hinaus.

"Die Verbrechen geschehen, der Bär wird als der Schuldige getötet, und Laestadius agiert wir ein Detektiv. Er nützt moderne Technologien und Wissenschaften, wie die Daguerreotypie, Fingerabdrücke usw.. Warum ist er den politischen und religiösen Hierarchen verdächtig?"

"Laestadius war ein vielschichtiger Charakter. Er war Christ, im herkömmlichen Sinn. Er glaubte an Geister und Teufel unter der Erde, die Menschen fingen, um sie in die Sünde zu zerren. Gleichzeitig glaubte er an die Psychologie, er studierte Psychologie, Agrarwissenschaften, die Botanik. Ihn interessierte alle Art von Technik, die das Leben im Norden leichter machen konnte."

"Ihr Roman ist spannend und sehr farbig, erzählt mit Geräuschen und Gerüchen, ist gemalt mit kräftigem Pinsel und aufgenommen mit einem Recorder, so ist mein Eindruck. Es scheint, als schreiben Sie in der Natur. Wie arbeiten Sie? Im Freien? Oder wie bringen Sie all diese Sinne in Ihren Roman?"

Seen-Landschaft in Nordschweden

"Ich lebe sehr verbunden mit der Natur. Die Hälfte meiner Zeit bin ich Waldarbeiter. Ich besitze die Wälder meiner Vorfahren. Vor ein paar Tagen erst habe ich Bäume gefällt, damit die anderen besser wachsen können. Ich gehe hinaus in die Natur in meine Wälder und spüre, das sind gar nicht meine, das sind Wälder der Menschheit. Und ich bin nur ein Teil davon. Und wenn ich draußen war, bringe ich das immer in meine Bücher ein. Ich liebe die Natur. Ich bin Natur. Sie auch. Und München ist Teil der Natur. Wir sind Fleisch und Blut. Und vor allem jetzt, in dieser Corona-Zeit, merken wir, daß wir nur Körper sind, die verschwinden. Das ist schön."

"Und ist Pajala immer noch so ein entlegener Ort? Manchmal denke ich, das gibt es gar nicht mehr."

"Na ja, wir haben Autos. Aber die nächste Stadt ist 150 Kilometer entfernt. Und wenn man ins Theater möchte, muß man 200 Kilometer weit fahren. Das ist Teil der Schönheit hier. Ich liebe die Stille, wenn ich hinausgehe in die Natur. Die Luft ist so frisch. Ich höre keinen Verkehr. keine Flugzeuge. Da ist nur der Himmel über mir und der Schnee um mich. Das ist schön.
Ich fahre bald mit dem Kajak über kleine Bäche in den Fluß, und ab abends um 9 Uhr hinaus in die Nacht. Wir haben die Mitternachtssonne hier, keinerlei Dunkel. Ich fahre hinaus wegen der Elche, da sind sie aktiv und haben keine Angst vor dem Kanu. Ich kann, sagen wir, 30 Meter nah an einen Elchbullen heran, der am Ufer liegt. Und sie schauen mich an, und ich denke, was kommt jetzt? Und wenn ich sehr still bin, sehe ich sie atmen und trinken."

"Danke, Mikael Niemi!"

"Danke Ihnen! So schön, daß Sie mich kontaktiert und eingeladen haben!"

Außerdem im aktuellen Büchermagazin:

Die Lage der Verlage

Die Verlagsprogramme zeigen deutlich virale Spuren. Erfahrungen von Hanser-Verleger Jo Lendle, Piper-Verlegerin Felicitas von Lovenberg und Aviva-Verlegerin Britta Jürgs, der Stimme kleiner unabhängiger Verlage

Weitere Buchtipps im Diwan vom 5. Juli

Maryse Condé: „Das ungeschminkte Leben: Autobiographie.“,
aus dem Französischen von Beate Thill
304 S., Luchterhand Literaturverlag, 22 Euro

Khaled Khalifa: „Keine Messer in den Küchen dieser Stadt“,
Übersetzung: Hartmut Fähndrich, 288 S., Rowohlt Buchverlag, 22 Euro

Juri Andruchowytsch: „Die Lieblinge der Justiz",
Übersetzung: Sabine Stöhr, 299 S., Suhrkamp Verlag, 23 Euro

Hörbuch: Kathrin Passig und Aleks Scholz: 
„Handbuch für Zeitreisende. Von den Dinosauriern bis zum Fall der Mauer“,
156 Min., Der Hörverlag, 16,45 Euro


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