"Neverend" Aleš Šteger im Gespräch über seinen Roman "Neverend"
Ein hochpoetischer und gesellschaftskritischer Roman, der zeigt, was mit uns allen passieren könnte – wenn es nicht schon längst passiert.
Niels Beintker: Krise überall. So ließe sich der Roman „Neverend“ des slowenischen Schriftstellers Aleš Šteger vielleicht kurz umreißen. Wobei, ein solches Etikett wird dem vielschichtigen Buch überhaupt nicht gerecht. „Neverend“ erzählt einmal von einer Wirtschaftskrise. Von einem Handelskrieg, der unter anderem zur Folge hat, dass es keine Bananen mehr gibt. Dann, geht es um eine politische Krise, um den Aufstieg eines Populisten und die damit einhergehende Zerstörung der Demokratie. Ebenso geht es um die Krise, die durch eine unbewältigte Vergangenheit entsteht, in Folge der Kriege im zerfallenden Jugoslawien. Das alles ist verbunden mit der Geschichte einer Schriftstellerin, die einen Schreibkurs für Häftlinge im Gefängnis leitet und von diesen immerfort Erzählungen zugeschickt bekommt. Aleš Štegers Roman erschien 2017 in Slowenien. Jetzt gibt es ihn in deutscher Übersetzung. Ich konnte mit dem Schriftsteller in Ljubljana sprechen und habe ihn zunächst gefragt was gab den Anlass für „Neverend“?
Aleš Šteger: Der Anlass war eine Einladung von einer serbischen Tageszeitung, eine ganz kurze Erzählung über den Krieg zu schreiben. Und das war eigentlich die Erzählung „Baum“. Als ich die geschrieben hab, hat sich etwas in mir gelöst und geöffnet, und dann konnte ich eine lange Zeit eigentlich nicht aufhören. Es waren Bilder, die mich verfolgt haben, Gefühle, die ich in mir mitgetragen habe eine lange Zeit, die eigentlich eine Erweiterung des Realen in mir darstellten. Es war keine Fluchtbewegung, ich habe sie nie als solche empfunden. Es war eher eine Art, wie man eigentlich über fast nichts Sagbares etwas hat aussagen können. Und so haben sich sehr viele eigentlich nicht metaphorische, sondern allegorische Erzählungen geschrieben. Sehr vieles, was im Buch vielleicht irreal erscheint oder skurril, liegt sehr nahe am Realen, was ich da erlebt habe oder wie ich es erlebt habe. Und eigentlich ist es auch frappierend.
Ich bekomme es immer wieder hier von Leuten gesagt, inwieweit vor allem auch das, was bei uns im Land in den letzten zwei Jahren geschehen ist, und natürlich auch pandemiebedingt, aber dann eben mit Regierungsmaßnahmen, die die persönliche Freiheit sehr einschränken und den Reaktionen darauf, vor allem auch der Spaltung der Gesellschaft, vorher genommen im Buch schon war. Obwohl man da davon eigentlich noch nicht, auch ich persönlich nicht, ahnen konnte, dass so etwas eigentlich auf die Art und Weise möglich wäre. Als der Roman im Slowenischen herauskam, wurde er wirklich als Dystopie gelesen, als etwas Gedachtes vielleicht Erdachtes. Jetzt wird er, glaube ich, viel eher im aktuellen Kontext als etwas Erahntes gelesen.
Niels Beintker: Aleš Šteger, Sie erzählen und bündeln die einzelnen Geschichten und Stränge in der Perspektive einer Kollegin, einer Schriftstellerin. Sie erlebt eine persönliche Krise, kann anders als ihre so erfolgreiche Kollegin Eva gerade nicht schreiben. Ihr Partner, Kafka, rät er wiederum, den Workshop im Gefängnis anzunehmen. So setzt sich der Roman in Gang. Was hat sie denn an dieser Erzählerin interessiert?
Aleš Šteger: Es ist natürlich immer auch ein Wagnis, aus einer Frauenperspektive zu schreiben. Obwohl für mich war das von Anfang an irgendwie notwendig. Es war, als ob das Buch eigentlich danach rief. Die Hauptfigur ist ja auch eine Suchende. Sie sucht nach der Mutter. Sie versucht, eine Familiengeschichte aufzudecken, ihre persönliche Familiengeschichte, damit ins Reine zu kommen. Sie versucht in einer Gesellschaft, die nicht mehr hört, nicht mehr sieht, nicht mehr spricht, gerade das mitzumachen. Selbstverständlich pointiert. Sie geht raus, verbindet sich den Kopf und sieht nicht mehr, oder sie legt sich hin und sie, sie kann nicht mehr gehen. All das wird natürlich brutal übergangen vom Trubel einer Gesellschaft im Umbruch. Und sie scheitert. Sie muss eben mit diesem Nichtwissen und mit diesen erbitterten Versuchen, doch nicht zu scheitern, weiter auskommen. Das mit dieser Hauptfigur mitzuerleben, war für mich von existenzieller Wichtigkeit. Dass die Hauptfigur wirklich dann eine Frau war. Ich kann es eigentlich nicht noch näher beschreiben, um es nicht zu banalisieren.
Niels Beintker: Könnte man denn diese Frau auch als Kassandra bezeichnen?
Aleš Šteger: Kassandra wäre zu viel. Ich glaube, es wäre zu sehr an tragische Vorbilder gebunden. Es ist eine moderne Figur, die versucht, eben im Strudel zurechtzukommen – und das gelingt ihr nicht. Aber zugleich bekommt sie ja immer wieder vom Umfeld Informationen. So wie das Orakel in Griechenland zu den tragischen Figuren sprach, so gibt es im Buch eben kleine Szenen, die wirklich symbolträchtig für sie sind. Aber so, wie man in Griechenland den Spruch des Orakels nicht verstanden hat, sind diese Szenen, die sie sind nicht interpretieren kann. Sie fährt ja immer wieder, wo sie im Gefängnis arbeitet, über eine Brücke, wo ihre Mutter verunglückt ist. Und sie weiß eigentlich nicht, war es ein Selbstmord oder ein Unglücksfall. Und sie macht sich Schuldvorwürfe und möchte eigentlich damit ins Klare kommen. Sie kann es aber nicht. Aber immer, wenn sie über diese Brücke fährt, passiert etwas. Es kommen Insekten zu ihr in den Mund – also eigentlich wird dieses Allegorische, von denen wir zuvor sprachen und das ja viel offensichtlicher ist in den Erzählungen, gerade über dieses ungelöste Trauma von der Hauptfigur immer wieder auf viel, vielleicht feinerem Niveau aufgenommen, viel poetischer aufgenommen und weitergesponnen, ohne wirklich dann, im Endeffekt, es, wie gesagt, jetzt eindeutig aufzulösen.
Niels Beintker: Aleš Šteger, die Erzählerin, beginnt dann doch zu schreiben über den berühmten Naturwissenschaftler Carl von Linné und über den Naturforscher und Arzt Antonio Scopoli, kurz Scop. Damit bewegt sich der Roman von der bedrückenden Gegenwart in das Zeitalter der Aufklärung und damit aber auch in eine Epoche voller Krieger. Was hat sie denn an den beiden historischen Figuren und an ihrer Lebenszeit interessiert?
Aleš Šteger: Linnaeus – Carl von Linné – war der große Dichter unter den Naturwissenschaftlern. Das ist ja der größte Traum von jedem Dichter, die Welt neu benennen zu können. Und das hat Linnaeus gemacht als Naturwissenschaftler. Der zweite Aspekt war natürlich es war die Zeit der Aufklärer, auch der Kolonien, und die Bananen kamen natürlich zu dem Zeitpunkt nach Europa. Scopoli und die Linnaeus haben sich ja persönlich nie getroffen, und ich sage das auch im Roman immer wieder. Aber da gibt es wirklich dann diesen Versuch, sie wenigstens auf dem Papier in der Geschichte treffen zu lassen. Scopoli war, wenigstens was wir aus den Briefen, der Korrespondenz und anderen Schriften von ihm, vernehmen können, eigentlich auch ein sehr schwieriger Charakter. Er war sehr an seine Mutter gebunden und war extrem ehrgeizig und ehrsüchtig. Und er erfuhr diese Ehren eigentlich nie.
In meinem Buch macht er das, was er im Leben nie gemacht hat. Er verlässt über Nacht eigentlich Idrien, zu dem Zeitpunkt eins der drei großen Quecksilber-Bergwerke, wo er der einzige Arzt war, und macht sich auf, um Linnaeus zu treffen und geht durch ein zuteil ist Krieg verwüstetes Europa und verliert auf dieser Reise eigentlich alles, womit er aufgebrochen ist. Es ist eine Reise ohne Rückkehr, und am Ende treffen sie sich natürlich nicht. Am Ende blickt er nur auf diesen verwüsteten Raum, das verlassene Gewächshaus und eben den Bananenbaum, wo die ersten Bananen auf europäischem Boden gezüchtet – wirklich, in Wirklichkeit – gezüchtet wurden. Dieses Gewächshaus, es ist aufgrund von Schulden und schon zum Zeitpunkt mit Handelskriegen verlassen worden. Ähnlich toben Handelskriege auch um uns. Wir wissen es nur nicht, wir fühlen es viel weniger. Jetzt, leider, fühlen wir es wieder, wegen des Krieges in der Ukraine. Aber die meiste Zeit fühlen wir es nicht. Die Bananenpreise steigen und sinken und wir essen und essen weiter.
Niels Beintker: Die Gegenwart des Romans, eine nahe Zukunft, ist alles andere als verheißungsvoll mit Handelskrieg, Populismus und Zerstörung der liberalen Demokratie. Aleš Šteger, wir blicken lesend auf das sterbende Europa, auf die ewige, unveränderliche Greisin, wie es einmal im Roman heißt, war es denn eine bewusste Entscheidung über eine fragile, unheilvolle Zeit zu schreiben?
Aleš Šteger: Ich glaube, das kommt schon vom Stoff automatisch mit. Es ist nichts jetzt, was der Auslöser wäre. Es ist gegeben. Wir leben in einer absolut fragilen Welt. Und eigentlich ist es extrem schwierig, mit diesen Gewissen zu leben. Also verdrängen wird das. Wir verdrängen es, und wir machen so, als alles um uns normal gegeben wäre. Schon, dass wir Luft atmen und dass wir Wasser zu trinken haben, ist nichts Selbstverständliches. Ich glaube, die letzten Jahrzehnte lehren uns das auf eine brutale Art und Weise. Und wenn es sich dann um Politisches handelt, ist es umso schneller, glaube ich, dass in einer Zeit von Fake-News, von schnellen Umstürzen der öffentlichen Meinung, von Diskursen, die eigentlich nichts mehr mit Rationalität oder Diskussion zu tun haben, sondern wirklich, die sehr emotional und manipuliert sind – da kann es extrem schnell geschehen, dass jemand durch demokratische Wahlen eben gewählt wird, der nie gewählt werden sollte. Wir erleben es immer wieder, glaube ich, und sehen es und fragen uns was können wir machen? Aber es ist sehr, sehr schwierig, eben mit diesem Gewissen, immer in einer aktivistischen Form zu leben. Passiv können wir aber nicht mehr bleiben. Da meine Antwort ist natürlich: Ich versuche zu schreiben, aber die meisten versuchen vor allem zu leben. Und, wie lebt man damit?
Aleš Šteger, geb. 1973, ist der bekannteste slowenische Autor seiner Generation und lebt in Ljubljana. Er studierte Vergleichende Literaturwissenschaften und Germanistik in Ljubljana und debütierte 1995 mit einem Lyrikband. Darauf folgten weitere Gedichtbände, Romane und Essays, seine Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt vielfach ausgezeichnet. Aleš Šteger ist Mitglied der Akademie der Künste Berlin und der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz.
Aleš Šteger „Neverend“ (Wallstein) Übersetzung: Matthias Göritz und Alexandra Natalie Zaleznik 462 Seiten € 26,-