Laudatio Degenhardt: /Ohne Titel
"Was in Karl-Heinz Degenhardts Hörstück Ohne Titel abläuft, ist buchstäblich ein Film ohne Bilder, so als wären die visuellen Aufzeichnungen längst verblasst und als könnte nur die Tonspur wiedergegeben werden. Es geht um ein assoziationsreiches Wechselspiel zwischen gegensätzlichen akustischen Kulissen, zwischen innen und außen – Schritte, Stimmengewirr, das Summen eines Bienenschwarms, spielende Kinder, dann reduzierte, elektronische Sounds, Straßengeräusche … Das wiederholte Öffnen, Schließen und erneute Öffnen von Türen, das von Schritten und Schlüsselgeklapper begleitet ist, sowie der damit verbundene Zugang zu – oder Ausschluss von – wechselnden Szenarios bilden klare Schnitte zwischen den einzelnen Szenen und sind die einzigen, aber umso effektvolleren dramaturgischen Mittel, die zum Einsatz kommen. Wie in großen Hotels, deren Infrastruktur über separate Zugangswege und Servicegänge bedient wird, scheinen wir uns hier in einem Paralleluniversum zu befinden, von dem aus Türen in unterschiedlichste, modellhafte Realitäten geöffnet werden können.Wieder (so ähnlich hatte ich mich kürzlich bereits über Claus Noltes Artmix-Studie über Das ganz Gewöhnliche an diesem Morgen im Herbst geäußert, und ich beginne darin ein Muster meiner Hörgewohnheiten zu sehen) ist es die lakonische Wahl simpelster Mittel, die mich interessiert. Das Ganze ist wie ein Konzeptstück, das trocken die eigenen Mittel vorführt. Bemerkenswert daran ist, wie unmittelbar wir als Zuhörer/innen sensibilisiert werden für die unterschiedlichen Klangtemperaturen und -qualitäten, ihre Komplexität, ihre Divergenz. Es ist wie ein Schnellkurs darin, unsere parallelen Realitäten mit anderen, offenen Ohren wahrzunehmen."
Heike Ander, Kuratorin kunstraum muenchen, München