Bayern 2 - Hörspiel


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Laudatio Höchtl: Alle vor allem

Stand: 11.10.2011 | Archiv

"Nina Höchtls Hörstück Alle vor allem stellt mit seinen knappen horizontal wie auch vertikal kunstvoll über- und nebeneinander montierten Sentenzen über Flucht und Migration eindrucksvoll die Frage nach dem Woher kommen wir und Wohin gehen wir. Die Eckdaten der Geschichte von Flucht und Vertreibung werden in einem Rückblick aus dem Jahr 2057, in dem mehr als 200 000 Schweizer aus diesem mittlerweile ärmsten Land Europas flüchten, als diagonaler Schnitt durch die Zeit erzählt, gleichzeitig wird die Frage nach den zukünftigen Einwohnern Europas aufgeworfen. Der demographische Faktor hat den Kontinent gewissermaßen entvölkert. Nur durch Migranten konnten in einigen Ländern die Einwohnerzahlen wieder steigen – freilich zum Preis einer Dienstbotengesellschaft Ungebildeter, wie gemutmaßt wird. Aberwitzig wird die Migration aus Afrika nach Europa als neue Kolonisation erzählt, da sich dieses neue Dienstbotenpersonal aus den afrikanischen Zuwanderern speist. Ein Kolonialstaat auf eigenem Boden wird beschworen und damit das Thema der sozialen Schere aufgeworfen. Was in dem Hörstück überspitzt fiktional anmutet, ist allerdings bereits Realität. Längst wäre die Altenpflege in Deutschland zusammengebrochen, gäbe es im Privaten nicht die gut ausgebildeten osteuropäischen Krankenschwestern, die auf Urlaubsreise in Deutschland derartige Aufgaben übernehmen, um nur ein Beispiel zu nennen. In der Kürze der Zeit gelingt es der Macherin des Hörstücks eben jene Form-Inhalt-Kongruenz zu erstellen, die einstmals als Garant für ein geglücktes Kunstwerks galt. In der vorliegenden aktualisierten Form ist das Über- und Nebeneinander der Stimmen gleichbedeutend mit dem diagonalen Schnitt durch Zeit und Raum, der auch ein Schnitt ins eigene Fleisch bedeutet, das selbst nur Teil einer großen organischen Wanderbewegung entlang der Chronologie ist. Die Frage nach der Kausalität bleibt, so scheint es, bewusst außen vor. Die Karawane der Katastrophen zieht weiter, aber nicht an uns vorbei."

Laudatio von Achim Heidenreich, Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe


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