10. Februar 1890 Fanja Kaplan geboren
Wenn die Frau sagt, sie war es, dann wird sie es auch gewesen sein. Meinen zumindest die Ermittlungsbeamten. Fanja Kaplan wird hingerichtet, als vermeintliche Attentäterin. Später jedoch stellt sich heraus: Die Schüsse auf den russischen Machthaber stammten nicht aus ihrer Waffe.
10. Februar
Dienstag, 10. Februar 2015
Autor(in): Isabella Arcucci
Sprecher(in): Ilse Neubauer
Illustration: Angela Smets
Redaktion: Julia Zöller
Moskau, August 1918. Eine junge, blasse Frau steht vor einem mächtigen Fabrikgebäude. Ihr Gesicht, mit dem scharfen, entschlossenen Profil, ist auf den Eingang gerichtet, aus dem nun schnellen Schrittes ein Mann kommt. Er hat soeben eine Rede vor den Arbeitern der Fabrik gehalten. Fanja kneift die Augen zusammen. Sie kann nur mit Mühe die Umrisse des Mannes erkennen, doch sie weiß, wer er ist: Wladimir Iljitsch Uljanow Lenin.
Seit nicht mal einem Jahr ist Lenin Regierungschef Russlands - und er führt das vom Bürgerkrieg aufgewühlte Land bereits mit eiserner Faust. Ohne Gnade geht er gegen jene vor, die politisch nicht auf seiner Seite stehen.
Schüsse auf Lenin
Aufrechten Gangs steuert der russische Regierungschef jetzt auf seinen Wagen zu. Der Chauffeur dreht schon mal den Zündschlüssel. Doch bevor Lenin einsteigen kann, drängen sich mehrere Arbeiter um ihn, bestürmen ihn mit Fragen. Fanja mischt sich zwischen die Männer. Die Umrisse vor ihren kurzsichtigen Augen sind immer noch undeutlich. Fanjas schweißnasse Hände umklammern ihre Handtasche, in der die Polizei später den kleinen Browning-Revolver finden wird. Mit lauter Stimme, um das Rufen der Männer zu übertönen, richtet sie eine Frage an Lenin. Der dreht sich zu ihr um. In diesem Moment fallen Schüsse. Eine Kugel trifft Lenin an der Schulter, eine andere am Hals. Er bricht zusammen.
Ein riesiger Tumult entsteht. Fanja spürt, wie sich zwei harte Griffe um ihre Oberarme schließen, dann wird sie abgeführt. Auf dem Revier der Geheimpolizei gibt Fanja Kaplan noch in dieser Nacht ein Geständnis zu Protokoll: sie habe aus freiem Willen auf Lenin geschossen, weil er in ihren Augen ein Verräter der Revolution sei, dessen Existenz, so Fanja, den Glauben an den Sozialismus zerstören würde. Lenin selbst dagegen, scheint unzerstörbar zu sein. Er überlebt das Attentat schwer verwundet. Wenige Tage später wird Fanja Kaplan ohne Gerichtsprozess erschossen.
Eine blinde Attentäterin?
1922 werden die Ärzte Lenin endlich die Kugel aus der Schulter entfernen können. Eine genaue Untersuchung ergibt: die Kugel stammte eindeutig nicht aus dem Browning-Revolver, den Fanja Kaplan bei sich trug. Doch wer war dann der Attentäter, und wer die Frau, die so bereitwillig ein Geständnis ablegte? Heutige Historiker wissen nur so viel: Fanja Kaplan war kein unbeschriebenes Blatt.
Am 10. Februar 1890 als Kind jüdischer Eltern in der heutigen Ukraine geboren, wurde sie schon früh zur Anarchistin und mit 16 Jahren zur Attentäterin. Doch der Bombenanschlag auf einen zaristischen Regierungsbeamten misslang, und brachte das junge Mädchen nicht nur ins Arbeitslager. Die Explosion hatte ihr zudem eine schwere Augenverletzung zugefügt. Als Fanja im Zuge der Februarrevolution 1917 aus dem Lager entlassen wurde, war ihre Sehkraft stark geschädigt. Einen zielgenauen Schuss auf Lenin abzugeben, wäre für sie vermutlich unmöglich gewesen. War der wahre Attentäter etwa ein gewisser Protopopow, ein Mitglied des Staatssicherheitsdienstes? Deckte Fanja mit ihrem bereitwilligen Geständnis den wahren Attentäter? Und wenn ja, weshalb?
Fragen, auf die es bis heute keine sichere Antwort gibt. Auch dem Sowjetregime schien später daran gelegen zu sein, das Bild Fanja Kaplans als Attentäterin aufrecht zu erhalten. Wer mit Nachnamen Kaplan hieß lebte auch unter Stalin noch gefährlich. Die vielleicht eher beiläufig gestellte Frage “verwandt mit Fanja Kaplan?“ bedeutete darum häufig nichts weniger als das eigene Todesurteil.