12. Mai 1997 Tamagotchi kommt auf den deutschen Markt
Manche Liebe ist anstrengend. Da sieht es auf den ersten Blick so aus, man hätte alles in der Hand - weil ja eh alles auf Tastendruck passiert. Und plötzlich macht so ein Cyber-Haustier viel mehr Mühe als gedacht! Autor: Markus Mähner
12. Mai
Dienstag, 12. Mai 2015
Autor(in): Markus Mähner
Sprecher(in): Ilse Neubauer
Illustration: Angela Smets
Redaktion: Susi Weichselbaumer
Im Jahr 1997 geschah in Deutschland etwas Ungeheuerliches: Viele Kinder vernachlässigten ihre Fernseher. Zum ersten Mal seit Beginn der Aufzeichnungen zur täglichen Fernsehdauer gab es einen Einbruch, von dem sich der bis dahin ständig steigende Fernsehkonsum nie wieder so richtig erholen sollte. Das wirklich Ungeheuerliche dabei: Die Kinder sahen weniger fern, weil sie ihren Pflichten nachgingen. Nein, nicht Zimmer aufräumen und Schulaufgaben machen. Das vernachlässigten die Kinder auch. Der Grund war ein neuartiges Haustier, das am 12. Mai 1997 zum ersten Mal auf ein deutsches Kind traf.
Haustier trifft Kind
Das Besondere an diesem Haustier: Man konnte es weder knuddeln, noch machte es brav und artig Männchen. Das Einzige was es von einem wollte: Man musste sich ständig drum kümmern. Man musste es sehr regelmäßig füttern; aufpassen, dass es nicht krank wurde und ihm die Langeweile vertreiben. Mehr noch: Man musste sein Häufchen wegräumen, ihm Disziplin beibringen und dafür sorgen, dass es nicht traurig wird - und das wurde es oft!
Die kleinen Dinger waren so pflegebedürftig, dass die Kinder sie überall hin mitnahmen, sogar in die Schule! Die Lehrer reagierten strikt: Sie verbannten die Tiere von den Schulhöfen und aus den Schulranzen, in denen sie normalerweise brav warteten, bis sie wieder Hunger bekamen, ein Häufchen gemacht hatten, ihnen langweilig wurde oder sie die akute Trauer überkam!
Kümmer Dich um mich!
Doch die deutschen Kinder liebten es, all diese Aufgaben zu erledigen. Und das obwohl sie bei dieser Arbeit nur scheitern konnten: Denn wenn man nur eine dieser Pflichten ein wenig vernachlässigte, starb das Vieh.
Zum einen wohl aus reinem Trotz, zum anderen aber auch deswegen, damit ihre Babysitter lernten mit dem nächsten Haustier besser umzugehen. Die tragische Todesstatistik: Kaum eines dieser kleinen Kümmer-Dich-Um-Mich-Tierchen wurde viel älter als ein halbes Jahr! Dennoch waren sie unglaublich beliebt. Allein im Jahr 1997 gingen gut 2 Millionen von ihnen über die Bundesdeutschen Ladentheken. Das sind gut zweieinhalb Mal so viel wie Kinder in dem Jahr geboren wurden. Und jetzt war 1997 der geburtenstärkste Jahrgang seit langem! Weltweit wechselte damals jede Sekunde einer dieser Kümmer-Dich-Um-Mich-Sonst-Sterb-Ich-Quälgeister den Besitzer.
Mädchen erprobten ihre mütterlichen Gefühle. Viele Jungs hingegen kamen auf eine Idee, die nicht so "im Sinne des Erfinders" war: Sie ließen ihr Tier hungern, versagten ihm jegliche Zuneigung, nur um ihm beim jämmerlichen Dahinsiechen zuzuschauen! Ein Aufschrei ging durch die Gesellschaft: Was für eine Unbarmherzigkeit! Die Presse tobte: Lasst die Tiere leben! Und das obwohl sie kurz vorher noch gegen die kleinen Dinger war: Vernachlässigten die Kinder doch immer mehr die Schule und ihre anderen Pflichten!
So plötzlich wie sie gekommen war, ebbte die Begeisterung der Kinder wieder ab, sie wollten sich nicht mehr um ihre Haustiere kümmern und kehrten brav zu den Fernsehern zurück. Nur wenige der neuartigen Haustiere überlebten die Jahrtausendwende. Dafür entstanden riesige Friedhöfe: Im Internet - für virtuelle, vernachlässigte oder zufällig zu Tode gequälte Cyber-Küken namens Tamagotchi.