22. Juni 1941 Anna Seghers unterschreibt Vertrag zu "Das siebte Kreuz"
Der Roman über die Flucht von sieben Häftlingen aus einem Konzentrationslager während der Zeit des Nationalsozialismus macht Anna Seghers weltberühmt: "Das siebte Kreuz". Er gilt als Meisterwerk der deutschen Literatur und einer der bedeutendsten Romane über das Leben während des "Dritten Reiches". Autor: Hartmut E. Lange
22. Juni
Mittwoch, 22. Juni 2022
Autor(in): Hartmut E. Lange
Sprecher(in): Christian Baumann
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach
Was für ein atemberaubender Anblick: die Skyline von Manhattan, nur wenige Kilometer entfernt! Und gegenüber, ganz nah, die kupfergrüne Lady Liberty. Auf Ellis Island ist man aber nicht wegen der schönen Aussicht. Man ist hier, um die Einwanderungsformalitäten zu erledigen. Und danach, nichts wie weg, rüber aufs Festland - Amerika!
Das Prozedere dauert wenige Stunden, doch die vierköpfige Familie Radvanyi sitzt seit Tagen auf der Insel fest. Der Vorwurf: sie hätten versucht eine psychische Erkrankung der Tochter zu verheimlichen, das Mädchen habe beim Medical Check verdächtig gezwinkert.
Die 13-Jährige ist nicht krank, nur erschöpft, vom Leben im Pariser Exil, der ständigen Angst vor den Nazis, der monatelangen Flucht. Nicht das Augenzwinkern des Teenagers ist eine Gefahr für Amerika, sondern die politische Überzeugung der Mutter. Das FBI weiß, wer sich hinter Netty Radvanyi, geborene Reiling, verbirgt: Schriftstellerin Anna Seghers, Kommunistin.
Der Roman ist willkommen, die Autorin nicht
Literaturagent Maxim Lieber entsteigt einer Fähre. Helfen kann er der Seghers nicht, aber er hat ein trostspendendes Papier in seiner Aktentasche. Ein renommierter Verlag interessiert sich für ihren noch unveröffentlichten Roman. Am 22. Juni 1941 unterschreibt Anna Seghers auf Ellis Island den Vertrag über Das siebte Kreuz.
Die Familie muss weiterziehen, Mexiko gewährt ihr Asyl. Das Leben unter Palmen ist alles andere als paradiesisch, finanzielle Sorgen prägen den Alltag. Im Frühjahr 1942 ist es damit vorbei: The Seventh Cross erscheint in den USA, innerhalb von zwei Wochen werden 350 000 Exemplare verkauft, das Buch ist ein Bestseller.
Spannend wie ein Thriller erzählt Anna Seghers eine Geschichte aus Nazi-Deutschland Mitte der 30er Jahre: 7 Häftlinge sind aus einem KZ geflohen. Der Lagerkommandant lässt 7 Kreuze errichten, an denen die Ausbrecher einen qualvollen Tod sterben sollen. 6 werden gefasst, doch das 7. Kreuz bleibt leer. Georg Heisler, die Hauptfigur der Erzählung, kann seinen Verfolgern entkommen, dank der Hilfe mutiger Menschen.
Schließlich greift Hollywood nach dem Stoff, Fred Zinnemann führt Regie, Spencer Tracy spielt die Hauptrolle - 1944 kommt der Film in die Kinos.
Im Januar 1945 sind tausende G.I.s auf dem Weg nach Europa, um die Nazis zu besiegen. In ihrem Marschgepäck befindet sich die Army Edition des Romans. Die Soldaten erfahren aus der Lektüre viel über das totalitäre Deutschland, und davon, dass es dort auch Menschen mit einem guten Herzen gibt.
Starke Schriftstellerin, schwache Verbandspräsidentin
Nach dem Krieg geht Anna Seghers nach Ost-Berlin. Sie ist eine international anerkannte Autorin, vor allem Das 7. Kreuz begründet ihren Ruhm. Im Herbst 1976 schaut die Fachwelt erwartungsvoll auf die Frau mit der leidvollen Exil-Erfahrung. Besonders DDR-Schriftsteller hoffen auf klare Worte ihrer Verbandspräsidentin gegen die Biermann-Ausbürgerung: sie werden enttäuscht. Bis ans Lebensende bleibt Anna Seghers eine unkritische Genossin, eine aus der Fraktion Die Partei hat immer recht.