Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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27. Juni 1894 Annie Londonderry beginnt Radtour um die Welt

Mit dem Fahrrad um die Welt? Schwierig, aber möglich – für echte Männer! Für Frauen hingegen ... keinesfalls! Wetten, dass doch? Annie Londonderry war die erste Frau, die mit einem Fahrrad um die Welt fuhr. Und Annie Londonderry war nicht nur Radfahrerin, sondern auch eine große Geschichtenerzählerin. Autorin: Ulrike Rückert

Stand: 27.06.2024

27.06.1894: Annie Londonderry beginnt Radtour um die Welt

27 Juni

Donnerstag, 27. Juni 2024

Autor(in): Ulrike Rückert

Sprecher(in): Caroline Ebner

Redaktion: Frank Halbach

Vielleicht musste sie einfach mal raus - mit dreiundzwanzig hatte Annie Kopchovsky drei Kinder und lebte mit ihrer Familie und auch noch der ihres Bruders in einer Mietskasernenwohnung. Jedenfalls stieg sie am 27. Juni 1894 in Boston aufs Fahrrad und strampelte davon. Ziel war erstmal New York, und dann Honolulu und China.

Die"neue Frau" auf dem Rad

Reportern erklärte sie, es ginge um eine Wette. Drei Männer waren schon mit dem Rad um die Welt gefahren, und nun wollten zwei reiche Geschäftsleute sehen, ob eine Frau das auch kann. Bei Erfolg bekäme sie zehntausend Dollar.
Die Reise trat sie an als Annie Londonderry. Das war der Name einer Mineralwasserfirma, die sie für die Werbung bezahlte. Aufmerksamkeit war ihr sicher. Amerika war im Fahrradfieber, und das heißeste Thema waren emanzipierte Frauen, die in die Pedale traten, und das womöglich in Hosen. 

Annie Londonderry fuhr ganz respektabel im langen Rock, aber als sie Chicago erreichte, war es zu spät, um vor dem Winter noch über die Berge im Westen zu kommen. Unverdrossen wechselte sie die Richtung. Sie vertauschte auch ihr schweres Damenrad mit einem leichten Herrenmodell und ihren Rock mit knielangen Pluderhosen.
Jetzt nahm die Sache richtig Fahrt auf. Die Presse machte sie zum Inbegriff der "Neuen Frau". Fürs Reisegeld verkaufte sie Fotos von sich und Taschentücher mit ihrem aufgedruckten Autogramm, aber ihr Hauptgeschäft war Reklame. Annie Londonderry war eine rollende Litfasssäule, mit Aufnähern auf den Kleidern und Wimpeln und Schildern am Rad.

Von New York fuhr sie mit dem Schiff nach Le Havre und radelte quer durch Frankreich. Mit einer großzügigen Auslegung von "Reise mit dem Rad" ging sie dann in Marseille an Bord eines Dampfers nach Japan und machte unterwegs nur Tagesausflüge in Hafenstädten. Im März landete sie in San Francisco. Sie hatte noch fünftausend Kilometer vor sich, auf Straßen, die nur Staub- oder Schlammpisten waren, je nach Wetter.

"Ich glaube, dass ich alles tun kann, was ein Mann tun kann"

Unterwegs hielt sie Vorträge über ihre Reiseabenteuer und fantasierte hemmungslos über Kämpfe mit Straßenräubern, eine Tigerjagd in Indien, ihre Fahrt über die Schlachtfelder des Kriegs in China und einen Abstecher nach Sibirien. Skeptische Reporter bezweifelten die Wahrheit ihrer Geschichten, aber das Publikum unterhielt sich blendend.
Im September war sie wieder zu Hause in Boston. Die "New York World", eine der größten Zeitungen in Amerika, heuerte sie als Reporterin an und gab ihr eine ganze Seite für ihren Reisebericht – oder besser, Reiseroman. Sie begann ihn mit: „Ich bin eine Journalistin und eine "Neue Frau", wenn das bedeutet, dass ich glaube, dass ich alles tun kann, was ein Mann tun kann.“

Die zehntausend Dollar dürfte sie nicht bekommen haben; wie es aussieht, hatte sie auch die Wette erfunden. Annie Kopchovsky nutzte, mit viel Courage, die aktuellen Hypes aus, um für sich den amerikanischen Traum wahrzumachen. Ihre Reporterkarriere war nur kurzlebig, aber mit ihrem Mann brachte sie es dann doch zum eigenen Geschäft und Haus. Und sie erzählte ihr Leben lang gern von der Tigerjagd in Indien.


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