23. Dezember 1920 Arthur Schnitzlers "Reigen" wird ein Skandal
Zehn Dialogen, in denen sich jeweils ein Mann und eine Frau, vor und nach dem Geschlechtsverkehr miteinander unterhalten: Arthur Schnitzlers „Reigen“. Das Stück thematisiert die „unerbittliche Mechanik des Beischlafs“, zeichnet ein Bild der Moral um 1900 und wurde ein Riesenskandal. Autorin: Justina Schreiber
23. Dezember
Montag, 23. Dezember 2024
Autor(in): Justina Schreiber
Sprecher(in): Johannes Hitzelberger
Redaktion: Frank Halbach
Der Skandal war wirklich vorprogrammiert. Denn alle tun es, aber niemand bekennt sich dazu. In Arthur Schnitzlers bekanntestem Theaterstück dreht sich ein sexueller Reigen leicht verklemmt die soziale Stufenleiter hinauf. Der Soldat treibt es zunächst mit der Dirne, dann mit dem Stubenmädchen, das Stubenmädchen darauf mit dem jungen Herrn. Der junge Herr mit der jungen Frau und so weiter, bis der Graf nach der Schauspielerin bei der Dirne der ersten Szene landet.
Empörend unzüchtig
Schnitzler zeigt in pointierten Dialogen, wie Ängste und Konventionen dafür sorgen, dass die Menschen selbst in ihren intimsten Momenten nicht bei sich sein können, sondern sich immer irgendwie verstellen und gegenseitig belügen müssen. Der Autor, ein promovierter Mediziner, wusste, dass dieser sachkundige Blick unter die bürgerlichen Bettdecken nicht gerade erwünscht war. Arthur Schnitzler hielt seinen „Reigen“ deshalb eigentlich für „unaufführbar“. Niemand fühlt sich gerne bloßgestellt. Allenfalls in „ein paar hundert Jahren“ könne das Theaterstück vielleicht rückblickend dazu dienen, „einen Teil unserer Kultur zu beleuchten“, meinte er, nachdem er die Niederschrift im Februar 1897 beendet hatte. Die Zeit war knapp 24 Jahre später tatsächlich längst nicht reif dafür. Die Uraufführung am 23. Dezember 1920 im Kleinen Schauspielhaus in Berlin verlief noch ohne Zwischenfälle, obwohl das Landgericht kurz zuvor ein Aufführungsverbot des „unzüchtigen“ Textes ausgesprochen hatte. Doch die Leiterin des Hauses, die Schauspielerin Gertrud Eysoldt, widersetzte sich locker. Auch die Kritik gab sich zunächst wohlwollend. Der große Ärger begann erst mit den Gerichtsverfahren, die erzkonservative Kreise anzettelten.
Deren Frust über das Ende der Monarchie und den verlorenen Weltkrieg, ihre Wut auf Juden, Sozialisten und Liberale fand in der übertriebenen Empörung über Schnitzlers „Reigen“ ein publikumswirksames Ventil.
Kultur als Quelle des Unglücks?
Der vom Autor „erwartete Heuchel- und Schimpfchor beleidigter Sittlinge“ trat nun auf den Plan. So behauptete etwa die deutschnationale Zeitung „Tägliche Rundschau“, dass durch die Berliner Premiere am 23. Dezember „das Geburtsfest Jesu auf satanische Weise geschändet worden sei“. Die vor allem antisemitische Hetze, die bei Aufführungen in Wien in massiven Störaktionen eskalierte, bot einen üblen Vorgeschmack auf die kommende NS-Diktatur. Dabei ging es doch nur um Sex! Aber Schnitzler entzauberte eben auch den Traum vom Glück der Liebe, indem er die Stelldicheins auf ihre peinliche Mechanik reduzierte. Sein Bewunderer, der Wiener Arztkollege Sigmund Freud, vertrat fast zeitgleich eine ähnliche These, nämlich: Dass die Kultur zur Quelle allgemeinen Unglücks werden kann, weil sie die Lust so konsequent mit Frust durchsetzt. Trotzdem gelte es, die Naturkräfte zu beherrschen, um „des menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstriebes Herr zu werden“. Ein schwieriger Balanceakt. Im Fall von Schnitzlers Reigen siegte ganz klar der Gesinnungsterror. Der Autor untersagte weitere Aufführungen. Und 1933 setzten die Nationalsozialisten das Stück dann eh auf die Liste der verbotenen Bücher.