20. August 1857 Der Dichter Charles Baudelaire wird verurteilt
Das Schöne im Hässlichen wird besungen, dem Abseitigen gehuldigt, in Charles Baudelaires Gedichtzyklus "Les fleurs du Mal -" Blumen des Bösen". Die Verse sind modern und ein Anschlag auf die Heuchelei der Bourgeoisie. Am 20. August 1857 wird Baudelaire wegen "Beleidigung der öffentlichen Moral" verurteilt. Autorin: Justina Schreiber
20. August
Dienstag, 20. August 2024
Autor(in): Justina Schreiber
Sprecher(in): Irina Wanka
Redaktion: Frank Halbach
Der Mann, der sich am 20. August 1857 vor der 6. Strafkammer in Paris zu verantworten hat, lebt ein unbürgerliches Leben. Er wohnt mal hier, mal dort, trinkt viel und konsumiert Drogen. Der Staatsanwalt bezeichnet den 36-jährigen Herumtreiber trotzdem als Ehrenmann. Schließlich ist Charles Baudelaire als Verfasser von Kunstkritiken und Übersetzer Edgar Allan Poes bekannt. Andrerseits sind da aber diese hundert Gedichte, die der Angeklagte nach jahrelangem, perfektionistischem Ringen gerade veröffentlicht hat. Es handelt sich um formal ansprechende Poesie, mustergültig in Versmaß und Reimschema, wie Kollegen dem ungewöhnlichen Literaten gern bescheinigen.
Abgründig
Die Wächter des guten Geschmacks reagieren dennoch alarmiert. Das Buch mit dem bezeichnenden Titel "Les Fleurs du Mal", "Blumen des Bösen" durchzieht nämlich ein morbider Ton. Ein Poem etwa besingt ein stinkendes Stück Aas, ein anderes verschrumpelte Greisinnen. Der Autor badet förmlich in Bildern des Todes und der Vergänglichkeit. Wie ein Anhänger der damals noch gar nicht erfundenen Gothic-Subkultur scheint er vom Satan, der Farbe Schwarz plus sehr viel Blut und einer Art Leichenkult besessen zu sein. In der inkriminierten Gedichtsammlung kommt allein das Bild des Abgrunds 18-mal vor. Der Abgrund des Schlafes, der Abgrund der Erinnerung und so weiter.... Für Charles Baudelaire, der hochsensibel in die menschliche Seele hineinlauscht, kann offenbar überall ein Abgrund lauern. Bei allem Verständnis für revolutionäre Denkansätze: Die 6. Pariser Strafkammer verurteilt den Dichter und seinen Verleger am 20. August 1857 zu empfindlichen Geldstrafen.
Außerdem dürfen sechs Gedichte gar nicht mehr gedruckt werden, da sie – so der Richter – "durch einen groben, die Scham verletzenden Realismus zur Aufreizung der Sinne führten", sprich: hier wird zu verführerisch von nackten Frauenkörpern, lesbischer Liebe und Prostitution gesprochen. Der Vorwurf der Gotteslästerung fiel überraschenderweise unter den Tisch. Überhaupt ließ der französische Staat letztlich Milde walten. Kaiserin Josephine gewährte dem armen Schlucker eine finanzielle Zuwendung, die seine Geldstrafe unterm Strich aufhob.
"Ein dunkler Engel"
Der Zensur-Skandal kurbelte den Verkauf von "Les fleurs du Mal" nicht etwa an. Baudelaires "Blumen des Bösen" verschwanden in der Versenkung. Bis die französischen Symbolisten und dann auch deutsche Lyriker um 1900 diesen "poet maudit" par excellence, diesen Prototyp des verfemten Dichters für sich entdeckten. Charles Baudelaire, der zehn Jahre nach dem Prozess qualvoll an Syphilis starb, wurde zum Idol der Schwabinger und Berliner Bohème. Er feierte ja in seinen Gedichten nicht nur den Trübsinn, sondern auch die "künstlichen Paradiese" des Rausches, egal durch welche Droge induziert. Die Anonymität der Masse, der Warencharakter der Liebe, das sich selbst entfremdete Subjekt: Erst die Nachgeborenen erkannten, wie modern Baudelaires Haltung war. Angesichts "müder" oder "wunder Himmel" dem eigenen Lebensüberdruss so schöne Verse abzuringen! Das konnte wohl nur, um aus einer bösen Blume, übersetzt durch Stefan George, zu zitieren: "ein dunkler engel mit der stirn aus erz"!