29. März 1848 Die Niagarafälle hören auf zu fallen
Ein Donner kann erschrecken - ebenso wie plötzliche Stille. In einer kalten Märznacht war es das Schweigen der Niagarafälle, das Menschen aus dem Schlaf riss: was war geschehen? Drohte der Zorn Gottes? Autorin: Christiane Neukirch
29. März
Montag, 29. März 2021
Autor(in): Christiane Neukirch
Sprecher(in): Christian Baumann
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach
Nichts ist so laut wie plötzliche Stille. Das Getöse der Welt ist für uns längst die gewohnte Geräuschkulisse des Lebens, und wenn es mit einem Mal ausbleibt, sind wir verunsichert. Wie schön könnte es sein, endlich uns selbst zu hören, in die Stille zu lauschen, sie zu genießen! Doch wir tun es nicht. Wir spüren: irgendetwas stimmt nicht.
Das Schweigen der Wasserfälle
Die Bewohner des Städtchens Niagara Falls in Ontario, Kanada leben – ebenso wie die Bewohner des Städtchens Niagara Falls in New York, USA – seit jeher mit dem Gedröhn eines der größten Wasserfälle der Welt. 57 Meter tief stürzt das Wasser dort von drei breiten Felskanten in die Tiefe. Die Gischt, die es dabei emporschleudert, steigt als leuchtend-weiße Wolke weit in die Höhe und vernebelt jenen, die sich nähern, die Sicht. Wer als Tourist dorthin kommt, kann sich dem Staunen über die Naturgewalten nicht entziehen; das Brodeln, das Schäumen, der Donner und die Färbungen des Wassers sind ein Spektakel für alle Sinne.
Wer sein Leben lang da wohnt, nimmt das alles erst bewusst wahr, wenn es fehlt. Der erste, dem etwas auffiel, war ein Farmer, der am 29. März 1848 um kurz vor Mitternacht eine Runde drehte – möglicherweise, um nachzusehen, warum seine wassergetriebene Getreidemühle nicht mehr mahlte. Das gewohnte Donnern der Fälle war einer sonderbaren Stille gewichen. Der Farmer machte sich auf zum Flussufer. Statt der riesigen Wasserwände ragte dort die nackte Felskante empor, nur kleine Rinnsale rieselten noch daran herunter wie Tropfen aus einem undichten Wasserhahn. Am Morgen des 30. März sahen es dann alle. Touristen wie Anwohner standen vor den stummen Steinwänden und rätselten:
Wo war das Wasser? Einige Wagemutige gingen auf dem trockenen Flussbett spazieren; zwischen toten Fischen und ratlos umherkriechenden Schildkröten fanden sie Souvenirs: alte Gewehre, Schwerter und Tomahawks. Biblisch orientierte Pessimisten machten sich eher Sorgen. Sie deuteten das Schweigen des Wassers als Vorboten von Gotteszorn.
Die Mauer aus Eis
Bis man wusste, was los war, hatte man zum Grübeln einige Stunden Zeit, denn Nachrichten reisten damals maximal so schnell wie die Eisenbahn. Der Zug aus der nächstgelegenen Stadt Buffalo brauchte mindestens drei Stunden. Und mit ihm kam endlich die Gewissheit, warum das Wasser aufgehört hatte zu fließen: ein Sturm hatte Eisschollen in den Abfluss des oberhalb gelegenen Eriesees gedrückt, und die bildeten einen wasserdichten Damm.
30 Stunden später hatte der Spuk ein Ende, die Wassermassen brachen sich Bahn, die Fälle fielen wieder. Die Natur hat dieses Schauspiel seitdem nicht wiederholt – auch wenn manch einer sich das vielleicht gewünscht hätte. Nicht nur einmal wurden Menschen unfreiwillig über die Kante gespült; 2018 harrte ein Mann zwei Stunden lang stehend an der Kante aus, ehe er gerettet wurde; er hätte sicher viel darum gegeben, die Fälle kurz mal abzustellen.