10. Oktober 1974 Eine Million Schwalben nehmen das Flugzeug
Im Herbst 1974 wurden unzählige Schwalben von einem plötzlichen Wintereinbruch überrascht. Es folgte eine der größte Artenschutz-Hilfsaktion der Geschichte: Per Schwalbenluftbrücke werden die Vögel in den Süden geflogen. Mehr als eine Million Schwalben erreicht so ihre Winterquartiere mit der Lufthansa. Autorin: Katharina Hübel
10. Oktober
Donnerstag, 10. Oktober 2024
Autor(in): Katharina Hübel
Sprecher(in): Johannes Hitzelberger
Redaktion: Frank Halbach
Es ist ein Beispiel gelungener europäischer Solidarität. Eine Luftbrücke, die ihresgleichen sucht. Eine Welle von Hilfsbereitschaft im Herbst 1974, eine einzigartige Rettungsaktion. Für die unbezahlter Sonderurlaub genehmigt wurde, gratis Züge quer durch Europa fuhren, Privat-PKWs unterwegs waren und Flugzeuge gechartert wurden. In kleinen Pappkartons mit Löchern wurden sie transportiert, mit Hackfleisch und Mehlwürmern gefüttert und von zahlreichen Fluchthelfern über die Alpen geschleust.
Luftbrücke für Zugvögel
Es war der Herbst, in dem eine Million Schwalben das Flugzeug nahmen. Eine Luftbrücke der besonderen Art. Einer Luftbrücke für Zugvögel. Alles beginnt mit einem über die Maßen feuchten und kühlen Sommer. Im September, zu einer Zeit, in der sich die Schwalben vor ihrer großen Reise in Gruppen versammeln: bereits Kälte, Nebel und Schnee. Für Zugvögel ein Todesurteil. Etwa 250.000 Insekten benötigt ein Schwalbenpärchen, allein um ihre Jungen für den Winter vorzubereiten. Ganz zu schweigen von dem, was sich die Vogel-Eltern selbst noch anfressen müssen. Doch ein kalter Sommer bedeutet wenige Insekten und Hunger für die Schwalben. Die Leicht-Gewichte unter den Zugvögeln trifft das besonders hart. Im Herbst 1974 messen Vogelschützer teilweise nur noch acht Gramm pro Schwalbe - gerade mal die Hälfte von ihrem eigentlichen Körpergewicht. Dennoch probieren es einige Schwalben, in dem Zustand loszufliegen. Scharenweise fallen sie in den Alpen vom Himmel, sinken ermattet in die beschneiten, eiskalten Berghänge. Piloten sehen beim Überfliegen der Gebirge schwarze Teppiche toter Vögel an den sonst weißen Wänden und berichten davon. Nicht nur Vogelschützer sind entsetzt, die ganze Bevölkerung ist aufgerüttelt und hilft mit, die Schwalben aus der Kälte zu evakuieren.
Im Oktober gehen die ersten von Menschen organisierten Flüge ins Winterquartier Richtung Süden.
Lufthansa LH 306
Am 10. Oktober 1974 hebt ein Flugzeug ab von Luxemburg nach Rom. Mit an Bord: Die Schwalben. In Deutschland startet ihre Reise über die Alpen nur wenige Tage später. Rolf Gogné vom damaligen Vogelschutzbund begleitet die Luftbrücke für die Zugvögel. Er schreibt in seinem Bericht: "18. Oktober 1974. Ich sitze in einer Boeing 727 der Deutschen Lufthansa: Flugnummer LH 306 von Frankfurt/Main, Abflug 13h, nach Genua. An Bord: 140 Passagiere, außerdem 2.000 Schwalben." 70 Prozent Mehl- und 30 Prozent Rauchschwalben. Ihre mit Tüchern ausgeschlagenen Kartons stapeln sich auf und zwischen den Sitzen. Ein gewöhnungsbedürftiger Anblick für die menschlichen Fluggäste. Ein Gefühl wie im Gepäckraum. Es sollte nicht der einzige Lufthansa-Flug bleiben für die Schwalben im Herbst 1974. Aus dem Norden ging es auch an so malerische Ferienorte wie Casablanca, Málaga oder Nizza. Militärmaschinen der Bundeswehr nehmen die Schwalben mit zu ihren Stützpunkten nach Sardinien und Portugal. So komfortabel sind die Zugvögel vermutlich noch nie gereist. Einfach First-Class. Ob sie an Bord der Lufthansa-Maschine auch Tomatensaft probiert haben, ist allerdings nicht überliefert.