13. Mai 1816 Frankenstein entsteht am Genfer See
Mal eben ein Monster erschaffen, einen Gruselroman schreiben, der die Welt fasziniert - passiert das im stillen Dichterstüblein oder eher wie im Fall Mary Shelleys im verregneten Urlaub mit verstrittenen Freunden? Frankenstein machte die Schriftstellerin weltberühmt. Autor: Armin Strohmeyr
13. Mai
Freitag, 13. Mai 2022
Autor(in): Armin Strohmeyr
Sprecher(in): Hans-Jürgen Stockerl
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Susi Weichselbaumer
Die Jahre nach 1815 wurden die "Zeit ohne Sommer" genannt. Schuld daran hatte der Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora, bei dem gewaltige Mengen Asche in die Atmosphäre geschleudert wurden: Die Sonne verfinsterte sich, die Temperaturen sanken. Englische Globetrotter hielt das nicht von ihrer Leidenschaft ab: Am 13. Mai 1816 trafen der Dichter Percy Shelley, seine neunzehnjährige Geliebte Mary Godwin und deren Halbschwester Claire in Sécheron bei Genf ein. Wenig später folgten der englische Dichter und Dandy George Byron und dessen italienischer Geliebter Giovanni Polidori. Die fünf zogen gemeinsam in die Villa Diodati am Genfer See. Doch in der Ménage zu fünft verstrickten sich alsbald die Gefühle. Vor allem Claire belastete das Miteinander durch ihre Projektionen auf Shelley und Byron.
Abstand gewinnen
Tagsüber seilten sich die beiden Dichter daher gerne ab und unternahmen Segeltouren. Abends saßen die fünf Freunde beim Wein am Kaminfeuer und ersannen aus dem Stegreif Gruselgeschichten. Denn die damalige Zeit liebte in der Gothic Novel den wohligen Schauer. Der Sommer am Genfer See wurde zur Geburtsstunde eines der bekanntesten Romane der schwarzen Romantik. Mary, Shelleys Geliebte, begann mit der Niederschrift eines Romans, der 1818 zunächst anonym erschien und die Autorin wenige Jahre später berühmt machen sollte: "Frankenstein".
Es ist die Geschichte des faustischen Forschers Frankenstein, der aus Leichenteilen ein künstliches Wesen zusammenflickt. Doch das "Monster" wendet sich gegen Frankenstein und tötet ihn, bevor es sich selbst umbringt. Die Schöpfung hat sich gegen ihren Schöpfer gewandt. Den Roman durchzieht weniger Grusel als Psychologie: Das Buch lotet die Untiefen der menschlichen Seele aus. Das von Frankenstein erschaffene Wesen ist kein Monster, das ohne Motiv mordet, sondern ein unglückliches Geschöpf, das Produkt menschlicher Hybris.
Es ist eine Erzählung, die bis heute nichts von ihrer Bedeutung verloren hat und die Tragödie des menschlichen Geistes wiedergibt, der zu Großem fähig ist, sich aber vom göttlichen Gesetz abwendet und sich damit selbst vernichtet. Mehr noch: Es ist die Parabel des modernen, von Widersprüchen gespaltenen Menschen.
Gruseltournee um die Welt
"Frankenstein" wurde ein Welterfolg: Zahlreiche Übersetzungen, mehrere Filmadaptionen - darunter ein expressionistischer Stummfilm mit Boris Karloff in der Rolle des Geschöpfes -, aber auch Opern, Theaterstücke, Puppenspiele, Rockopern und Computerspiele zeugen von der ungebrochenen Faszination des Stoffs.
Der Urlaub am Genfer See endete mit Spannungen und Eifersüchteleien. Byron reiste nach Venedig, Shelley und die Godwins kehrten nach England zurück. Von dort war die Nachricht eingetroffen, Marys Schwester Fanny habe sich mit Opium das Leben genommen. Wenig später beging auch Shelleys erste Frau Harriet Selbstmord. Shelley war damit frei: Mary und er heirateten drei Wochen später. Doch Mary Shelley verlor ihren Mann bald darauf:
1822 ertrank er im Mittelmeer vor der toskanischen Küste - bei einer draufgängerischen Segeltour im Sturm. Frankensteins unglückliches Geschöpf hauste schon lange in den unerfüllten Seelen der romantischen Generation.