6. Dezember 1775 Goethe bekrakelt den Schreibtisch der Frau von Stein
Haben sie oder haben sie nicht? Goethe, der Dichterfürst und Charlotte von Stein, die Hofdame der Herzogin Anna Amalia. „Platonisch liebendes Verhältnis“ oder ausgelebte Sinnlichkeit? Darüber zerbricht sich die Nachwelt bis heute den Kopf. Würd man Goethe fragen, würde er wohl sagen: „Noi, das geht niemande was an.“ Autor: Simon Demmelhuber
06. Dezember
Freitag, 06. Dezember 2024
Autor(in): Simon Demmelhuber
Sprecher(in): Johannes Hitzelberger
Redaktion: Frank Halbach
Da! Das ist er! Schaut nur, wie stolz er geht! Jeder Zoll ein Herr! Und diese Augen, dieser Blick! Als wollte er jeden Grashalm, jede Wolke auswendig lernen und die Welt auf einen Sitz verschlingen! Das also ist Goethe! Das ist das literarische Wundertier, das Götz- und Werther-Mirakel, der Leitstern einer rebellisch gärenden Jugend!
Eine Absichtserklärung
Und jetzt, vom jungen Herzog hergerufen und gastfrei gehalten, weilt dieses Genie leibhaftig in Weimar. Klar, dass die Hautevolee der Residenz um die Gunst näherer Bekanntschaft eifert und den Umschwärmten reihum in den Salon, zum Tee oder Festmahl bittet. So sehnlich wie Charlotte von Stein sehnt jedoch wohl niemand eine Begegnung herbei. Die Hofdame der Herzoginmutter kennt jede Zeile, jeden Vers des Autors und drängt ihren Gatten beharrlich, den bewunderten Dichter auf Schloss Kochberg zu empfangen.
So kommt es, dass Goethe am Nikolaustag Siebzehnfünfundsiebzig dem Gut der Freiherrn von Stein eine Visite abstattet. Doch obwohl sich der Hausherr redlich müht, so richtig warm wird er nicht mit seinem berühmten Gast. Über Jagd und Pferde zu reden, das ginge an. Doch Kunst und Literatur? O, das zieht sich! Doch zum Glück rufen dringende Geschäfte: „Leider, leider! Die Pflicht! Alsdann mit Verlaub, Herr Goethe, und hoffentlich auf bald!“
Und so plaudern Goethe und die Hausfrau bald allein am Kamin. Es wird ein langes Gespräch. Man ist sich auf Anhieb gut, fühlt sich im andern daheim, zögert den Abschied hinaus. Bevor sich der Besuch schließlich doch losreißt, beugt er sich über Charlottes Sekretär und krakelt „Goethe, den 6. Dezember 75“ auf die Schreibunterlage. Das ist mehr als nur ein Name mit Datum. Das ist eine Absichtserklärung.
Da meldet einer Ansprüche an und schickt der ersten Terrainmarkierung rasch eine Flut hitziger Briefe nach.
Der 26-jährige hat sich Hals über Kopf in die sieben Jahre ältere Ehefrau und Mehrfachmutter verliebt! Und vielleicht auch ein wenig in die Gelegenheit, sich selbst im Lieben, Verführen und Erobern zu üben. Goethe legt sich mächtig ins Zeug und zieht alle Register.
Haben sie oder haben sie nicht?
Doch so sehr er sich in sein poetisches Schmachten hineinwühlt, so sehr er lodert und glüht, so sehr Charlotte die Freundschaft genießt – körperlich wird die Sache nie. Zwar drängt und stürmt der Entbrannte bald werbend, bald schmollend auf mehr, doch sobald Apoll ihrer Reinheit nachstellt, sperrt Daphne sich hölzern. Egal wie er es anstellt, Charlotte ist und bleibt eine keusche Muse ohne Unterleib.
Wie? Echt jetzt? Bloß reden, nur Briefe schreiben? Darf das, kann das überhaupt sein? Wirklich kein Sex? Hm! Das Problem juckt nicht nur pubertierende Geister. Auch gelehrte Köpfe bewirtschaften das delikate Feuchtgebiet deutscher Dichtung mit wahrer Inbrunst. Bislang ohne Ergebnis. Das Erzrätsel „Haben sie oder haben sie nicht?“ ist aller Mühen ungeachtet noch immer ungelöst. Genauso wie die Folgefrage: "Was bringt’s denn, wenn man’s wirklich weiß?“