5. September 1786 Klassiker-Stalking: Goethe flieht aus Regensburg
Das Dasein als Dichterfürst hat was, denkt Goethe lange. Aber irgendwann gehen dem literarischen Großmeister die Ideen aus und da ist guter Rat teuer, denn wie soll man inspirationssuchend das Leben nochmal so ganz in allen Varianten erkunden, wenn einen dauernd wo jemand erkennt. Autor: Simon Demmelhuber
05. September
Donnerstag, 05. September 2024
Autor(in): Simon Demmelhuber
Sprecher(in): Johannes Hitzelberger
Redaktion: Susi Weichselbaumer
Da schleicht sich einer davon, heimlich, leise, während die Freunde schlafen. Vor ein paar Tagen erst haben sie seinen Geburtstag gefeiert. Hier, in Karlsbad, laut und aufgeheizt wie immer. Nur ihm war kalt ums Herz. Weil er schon wusste, dass er sie wort- und grußlos verlassen würde. Aber was hätte er auch sagen, wie erklären können, was ihn so offensichtlich ohne Not aus ihrer Nähe trieb? Steht nicht alles zum Besten? Ist er nicht geadelt, Geheimer Rat, Mehrfachminister, Vertrauter des Weimarer Herzogs? Und ist er nicht in ganz Europa berühmt für die Leiden des jungen Werthers? Nicht umjubelt für Götz und Iphigenie?
Schall und Rauch
Ach, das ist Schnee von gestern, abgenutzter, verbrauchter Ruhm. Seit zehn Jahren ist nichts Neues entstanden. Angefangen hat er vieles, vollendet nichts. Überall nur Stagnation, überall Stumpen. Die Amts- und Hofgeschäfte haben den Künstler erstickt. Selbst erotisch steckt er fest: Charlotte von Stein ist seine Herzensvertraute, sein Seelen-Du, mehr aber nicht. Stillstand und Stockung auch da.
Kommt da noch was? Wenn, dann nicht im trüben Deutschland, nicht im engen Weimar. Wenn er sich wiederfinden, wenn er den Dichter, den Schöpfer, den Liebenden wiedererwecken will, muss er ins Weite, ins götterfromme, sonnenselige, blauüberwölbte Sehnsuchtsland Italien!
Bella Italia
Gegen drei Uhr morgens, am 3. September 1786, stiehlt sich Johann Wolfgang von Goethe mit der Kaiserlichen Reichspost aus Karlsbad fort. Er reist mit leichtem Gepäck.
Und er reist inkognito, nennt sich nun Johann Philipp Möller aus Leipzig. Zum einen, damit ihn der Herzog nicht aufspürt und zurückbefiehlt. Vor allem aber, um jedes Aufsehen zu vermeiden. Um endlich wieder er selbst zu sein, nicht immer nur dieses vermeintliche Wundertier, das man fortwährend begafft, bedrängt, beschwätzt und in einen Käfig wilder Erwartungen sperrt, sobald der Name Goethe fällt. Darum Möller! Darum Kaufmann oder Maler statt Geheimrat und Schwärmer-Idol.
Im Schutz dieser Namens- und Standesfinte erreicht er am folgenden Morgen die Reichsstadt Regensburg. Herr Möller nimmt Logis im Weißen Lamm, lässt sich rasieren und frisieren, erkundet die Stadt, zeichnet, notiert, besucht abends die Oper und tags darauf die Montagsche Buchhandlung am Rathausplatz.
Da passiert es: Der Buchhändler stutzt, legt den Kopf schief, stellt den Blick scharf, schürzt die Lippen, reibt sich die Nase, bis zuletzt ein Erkennen sein Gesicht überglänzt: "Exzellenz! Sie in Regensburg!?" Goethe weiß sofort, wer vor ihm steht: Der einstige Chef seiner Weimarer Stammbuchhandlung, den ein zynisches Geschick ausgerechnet hierher verweht hat. "Muß machen, daß ich fortkomme!" schreibt er hastig an Charlotte. "Ein Ladenbedienter hat mich erkannt. Ich hab ihm aber grade ins Gesicht geläugnet, daß ich es sey." Trotzdem: Weg, nur weg! Und schon wenig später notiert der Torschreiber im Rapportbuch: "Mittags, am 5. September 1786: Beim Sankt Peterstor hinaus per Posta Herr Möller von Leipzig."
Tja. "Edel sei der Mensch, hilfreich und gut" - Das ist ja echt schön gedacht. Aber manchmal, sagt der Dichter, geht auch eine kleine Notlüge klar.