Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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6. Dezember 1909 Jiu Jitsu beim Cafékonzert

Sie war nicht nur eine englische Suffragette, sondern auch Lehrerin für die Kampfkunst Jiu-Jitsu: Edith Garrud. Mit der von den japanischen Samurai stammenden "sanften Technik" trainierte sie die Leibwache der Frauenrechtlerin Emmeline Pankhurst hinsichtlich Selbstverteidigung und Selbstbewusstsein. Autorin: Ulrike Rückert

Stand: 06.12.2023 | Archiv

06.12.1909: Jiu Jitsu beim Cafékonzert

06 Dezember

Mittwoch, 06. Dezember 2023

Autor(in): Ulrike Rückert

Sprecher(in): Irina Wanka

Redaktion: Frank Halbach

"Cafékonzert zur Unterstützung der Gesellschaft für Frauenstimmrecht! Erstklassiges Orchester!" Der stuckverzierte Festsaal im noblen Londoner Stadtteil Kensington war rappelvoll am 6. Dezember 1909. Es gab Gesang, Theater, Wahrsagerinnen, eine Kuchen-Versteigerung und Jiu-Jitsu-Vorführungen von Edith Garrud. Die Kampfsportlehrerin war bekannt in der Suffragetten-Szene. Bei Veranstaltungen wie dem Cafékonzert trat sie in kompletter Straßenkleidung samt Wagenradhut auf und demonstrierte ihre Griffe an ihrem Ehemann in Polizei-Uniform - da bekam frau gleich eine plastische Vorstellung von den Anwendungsmöglichkeiten.

Selbst ist die Frau

Japanisches war um die Jahrhundertwende sehr in Mode in Europa, und das lockte japanische Jiu-Jitsu-Kämpfer in den Westen. Im Varieté sah das Publikum fasziniert, wie sie um einen Kopf größere Preisboxer aufs Kreuz legten, und Kampfsportschulen florierten. Auch Frauen waren begeistert. Sie hatten das viktorianische Ideal der zarten Frau am Arm eines Beschützers in den Müll geworfen - sie gingen ohne Begleiter auf die Straße, und sie fuhren Rad, ruderten, spielten Hockey und Tennis. Jiu-Jitsu erschien als der perfekte Sport für Frauen: es kam dabei nicht auf den Bizeps an, und es machte sie wehrhaft, wenn sie allein unterwegs waren. Mädchenschulen setzten es auf den Stundenplan, und in den teuren Vierteln von London waren Jiu-Jitsu-Parties statt Teekränzchen ein Hit.

Edith Garrud und ihr Mann trainierten Jiu-Jitsu bei einem japanischen Lehrer, und als er zurück nach Japan ging, übernahmen sie seine Schule in London. Edith rührte die Werbetrommel für Emanzipation durch Jiu-Jitsu: "Eine Frau, die Jiu-Jitsu kann, ist nicht hilflos", verkündete sie in der Presse. Sie war der Star in einem Stummfilm, in dem sie, gerade mal einen Meter fünfzig groß, zwei Straßenräuber ratzfatz erledigte, und half bei der Inszenierung eines Theaterstücks, in dem eine Ehefrau ihren gewalttätigen Mann mit Jiu-Jitsu zur Räson brachte. 

Frauenbewegungs-Security

Für Suffragetten bot sie Kurse mit "speziellen Methoden zur Selbstverteidigung" an. Die Demonstrationen der Frauenrechtlerinnen endeten oft in Straßenschlachten mit der Polizei, bei denen sie brutal gestoßen, geschlagen und getreten wurden. Die Nachfrage nach Edith Garruds Spezialunterricht war enorm. "Die Londoner Polizei zittert in ihren Schuhen", spottete eine Zeitung. Und als der militante Zweig der Frauenbewegung eine Security-Truppe gründete, übernahm Edith Garrud das Training. Die Aufgabe der Bodyguards war, die Verhaftung der Anführerinnen zu verhindern. Als Polizisten eine Veranstaltung stürmten, um Emmeline Pankhurst zu fassen, griff ihre Leibwache sie mit Gymnastikkeulen, Blumentöpfen und Jiu-Jitsu an und kämpfte, bis Pankhurst entkommen war.

Die "Schlacht von Glasgow" war einer der letzten Zusammenstöße zwischen Suffragetten und Staatsgewalt. Einige Monate danach begann der Erste Weltkrieg. In den Zwanzigerjahren setzte sich Edith Garrud zur Ruhe, die Frauen in Großbritannien bekamen das Wahlrecht und drangen weiter in die Welt des Sports vor. Jiu-Jitsu spielte dabei keine Rolle.


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