3. September 1888 Letzte Folge von Nell Nelsons "City Slave Girls" erscheint
Unerträgliche Hitze, gefährliche Tätigkeiten, kaum Lohn für endlose Stunden am Fließband – die Arbeitsbedingungen vor allem vieler Frauen sind Ende des 19. Jahrhunderts katastrophal. Um aus erster Hand zu berichten, schleust sich die junge Journalistin Helen Cusack in Fabriken ein. Autorin: Ulrike Rückert
03. September
Dienstag, 03. September 2024
Autor(in): Ulrike Rückert
Sprecher(in): Caroline Ebner
Redaktion: Susi Weichselbaumer
An einem Morgen im Sommer 1888 ging Helen Cusack in Chicago auf Arbeitssuche. Den ganzen Tag lang klapperte sie Fabriken ab. Fünfmal wurde sie abgewiesen, dreimal lehnte sie selbst dankend ab, als sie die Details erfuhr. Zwei Betriebe stellten sie ein. Bei einem trat sie am nächsten Tag an, um Unterhemden zu nähen, und kündigte noch vor Feierabend.
Das konnte sie sich leisten, denn sie hatte schon einen Job. Als Reporterin der Chicago Times war sie im Undercover-Einsatz, um herauszufinden, wie es Frauen in den Fabriken der Stadt erging.
Embedded journalism
Helen Cusack war nicht die erste, die so recherchierte. Ein Jahr zuvor hatte sich Nellie Bly in New York ins städtische Irrenhaus einliefern lassen. Ihr Bericht über den Horror, den sie dort erlebte, löste einen öffentlichen Aufschrei aus und machte sie berühmt. Und im Frühjahr hatte sich eine Journalistin in Minneapolis in Fabriken eingeschlichen und mit ihren Reportagen Furore gemacht.
Die Chicago Times klaute diese Idee umgehend. Chicago hatte fast eine Million Einwohner, und in seinen Fabriken schufteten auch zehntausende Frauen.
Wochenlang nähte Helen Cusack Knöpfe an Mäntel und Futter in Schuhe, rollte Zigarren und etikettierte Konservendosen. Selten blieb sie länger als ein paar Stunden, aber sie beobachtete, schaute in alle Ecken, fragte und hörte zu.
Wöchentliche Enthüllungen
Ab Ende Juli brachte die Times jede Woche etliche lange Artikel unter dem Pseudonym Nell Nelson und dem reißerischen Titel "City Slave Girls". Nell Nelson nahm ihre Leser mit in große Fabriken und in Hinterhofbuden im Slum. Sie saßen mit ihr in stickigen, düsteren Sälen zwischen blassen Frauen, die bei der Arbeit nicht sprechen durften, spürten Staub in Nase und Mund und den verkrampften Rücken. Sie erfuhren von den Hungerlöhnen, von denen die Arbeiterinnen noch Garn und Nadeln und selbst Miete für die Nähmaschinen bezahlen mussten. Und sie begegneten Kindern, Scharen von elf-, zwölfjährigen Mädchen.
Die Empörung schlug hohe Wellen. Die Auflage der Times stieg steil in die Höhe. Zeitungen in New York und anderen Städten berichteten über Nell Nelsons Detektivarbeit. In Chicago gründeten Gewerkschaften und Frauenvereine ein Bündnis, um bessere Arbeitsbedingungen für die Frauen durchzusetzen und die Kinderarbeit zu bekämpfen.
Als am 3. September die letzte Folge der "City Slave Girls" erschien, war schon eine Buchausgabe im Druck und Helen Cusack auf dem Weg nach New York, abgeworben von einer der größten Zeitungen.
Jetzt heuerte jedes größere amerikanische Blatt junge Frauen für spektakuläre Enthüllungsreportagen an. Sie gingen dahin, wo Männer nicht unauffällig recherchieren konnten, entlarvten Missstände in Frauengefängnissen und Waisenhäusern und überführten Babyhändler.
Ihre Reportagen bewirkten Reformen und neue Gesetze.
Oder sie gingen auf Abenteuer, die das viktorianische Frauenbild auf den Kopf stellten, wagten sich in Löwenkäfige und tauchten auf den Grund des Hafens von New York. "Stuntgirls" nannte man sie. Aber sie waren Pionierinnen des investigativen Journalismus und machten Reporterin zu einem neuen Traumberuf für Frauen.