Kalenderblatt Lois Longs veröffentlicht erste Kolumne im "New Yorker"
Lois Long kommt als Landei nach New York. Womit sie sich bald auskennt, sind Partys und Nachtclubs. Für eine angehende Journalistin vielleicht nicht das wesentliche Themenfeld, doch der gerade um jeden Leser bangende New Yorker stellt die junge Frau ein. Ihre Kolumne wir der Renner. Autorin: Ulrike Rückert
18. Juli
Donnerstag, 18. Juli 2024
Autor(in): Ulrike Rückert
Sprecher(in): Caroline Ebner
Redaktion: Susi Weichselbaumer
Es ging um Leben und Tod für den New Yorker. Im Februar 1925 war das erste Heft der legendären Zeitschrift erschienen, und im Mai stand sie schon vor dem Aus. In letzter Minute gab es doch noch eine Gnadenfrist, und der Chefredakteur suchte händeringend neue Schreiber. Für die Nachtclub-Kolumne heuerte er Lois Long an, eine dreiundzwanzigjährige Pfarrerstochter aus Connecticut. Es war die perfekte Wahl.
Mittendrin, statt nur dabei
Am 18. Juli 1925 erschien Lois Longs erste Kolumne im New Yorker, unter dem Pseudonym Lipstick - Lippenstift. Das war eine Ansage: Hier schrieb eine der rebellischen, emanzipierten jungen Frauen, die ihr Geld selbst verdienten und Dinge taten, die vor kurzem noch absolut tabu waren - beispielsweise sich die Lippen anmalen und sich in Nachtclubs amüsieren.
Frisch vom College kam das Landei Lois Long mit einundzwanzig nach New York, ergatterte einen Job in der Redaktion der Vogue und stürzte sich ins Nachtleben. Weltkrieg, Grippe-Pandemie und Nachkriegswirtschaftskrise waren vorbei, der Big Apple war eine große Party, und die Prohibition verlieh den Reiz des Verbotenen und der Gefahr.
Insider-Wissen
Von den glamourösen Clubs um den Broadway zogen die Nachtschwärmer weiter in Bohème-Cafés in Greenwich Village, italienische Kaschemmen und Jazzbars in Harlem. Extravagante Cocktailkreationen tarnten den Geschmack von schwarzgebranntem Fusel, und wenn die Polizei die Tür einrammte, war richtig was los.
Lois Longs Handtasche war vollgestopft mit Mitgliedskarten der "Privatclubs", mit denen Lokale die Prohibitionsgesetze auszutricksen versuchten. Sie kannte die aktuellen Codewörter, die man den Türwächtern durch Gucklöcher zuflüsterte, und war bei den ständig wechselnden Adressen und Namen der Nachtclubs auf dem Laufenden. Der New Yorker stellte eine Expertin ein.
Oft stöckelte sie morgens um vier, im Abendkleid und nicht ganz nüchtern, in die Redaktion und hackte, eine Zigarette im Mundwinkel, ihre Notizen in die Schreibmaschine. Allwöchentlich kommentierte sie ein, zwei Dutzend Lokale. Ihre Kolumne war immens populär, der beste Szeneführer, ironisch und gespickt mit amüsanten Anekdoten. Lois Longs Fans waren die erste treue Lesergemeinde des New Yorkers, eine feste Basis für den Erfolg des Blatts.
Aber beschwipste Dauerparty ist kein haltbarer Lebensstil. Die Weltwirtschaftskrise machte der großen Sause ein Ende, und Lois Long war nach einer kurzen Ehe alleinerziehende Mutter eines Kleinkinds. Beim New Yorker hatte sie ein zweites Standbein als Moderedakteurin, und das blieb sie vier Jahrzehnte lang.
Im Rückblick sah sie, dass unter der Feierlaune bei vielen Orientierungslosigkeit und Zukunftsangst geschwelt hatten. Auch das überschwängliche Gefühl von Emanzipation und Freiheit war eine Täuschung, Frauen hatten noch längst nicht alle Fesseln abgeworfen. Aber Lois Long erinnerte sich nostalgisch an den Spaß, den sie in den wilden Zwanzigern hatte. Bevor sie 1974 starb, wünschte sie sich statt einer Trauerfeier eine Party. Und die bekam sie.