23. August 1946 Mord in der Puppenstube
Sie war eine Pionierinder forensischen Wissenschaft: Frances Glessner Lee. Die US-amerikanische Miss Marple wurde der erste weibliche Polizeihauptmann der Vereinigten Staaten. In ihren Seminaren über Spurensuche am Tatort verwendete sie akribisch hergestellte Miniaturen von Tatorten. Autorin: Ulrike Rückert
23. August
Freitag, 23. August 2024
Autor(in): Ulrike Rückert
Sprecher(in): Irina Wanka
Redaktion: Frank Halbach
Auf der Suche nach einem seit Tagen vermissten Teenager betreten zwei Polizisten am 23. August 1946 das zu dieser Zeit unbewohnte Pfarrhaus. Das Mädchen liegt im Wohnzimmer, das Kleid zerrissen, der Kopf in einer Blutlache, im Bauch ein Messer.
Die Leiche ist etwa dreizehn Zentimeter groß, der Tatort eine Puppenstube - eine von mindestens zwanzig, die Frances Glessner Lee geschaffen hat.
Die Urmutter der CSI-Ermittler
Miniatur-Interieurs auszustaffieren war ein nettes Hobby für Damen. Frances Glessner Lee war um die siebzig, eine grauhaarige Großmutter mit Goldrandbrille, als sie ihre Modelle kreierte, aber sie hatte keine geschmackvollen Dekorationsobjekte für ihren Salon im Sinn. Jedes war die Szene eines rätselhaften oder gewaltsamen Todes, und Lee wurde damit zur Urmutter der CSI-Ermittler.
Die Millionenerbin aus Chicago war eine autodidaktische Expertin in Gerichtsmedizin und Kriminalistik. Auf diesen Gebieten waren die USA in den Neunzehnhundertdreißigern weit hinter Europa zurück. Qualifizierte Gerichtsmediziner gab es nur in einigen Großstädten. Ansonsten entschieden Leichenbeschauer, die ins Amt gewählt wurden und selten überhaupt medizinische Kenntnisse hatten, ob ein Todesfall natürlich, Unfall, Selbstmord oder Mord war. Der Leichenbeschauer, der bei einem Toten mit gefesselten Händen und einem Messer im Rücken auf Selbstmord erkannte, war wohl ein Extremfall. Aber die Gefahr war immens groß, dass Verbrechen übersehen oder Unschuldige zu Unrecht verurteilt wurden.
Frances Glessner Lees Mission war, das zu ändern. An der Harvard-Universität stiftete sie den ersten Lehrstuhl und das erste Forschungsinstitut für Gerichtsmedizin in den USA. Und weil es auch keine theoretische Ausbildung für Kriminalpolizisten gab, begann sie in den Vierzigerjahren, selbst Seminare in Tatortanalyse zu organisieren. Für die Vorträge holte sie renommierte Fachleute – was fehlte, war praktisches Übungsmaterial. Lee begann zu basteln.
Die Puppenstuben des Todes
An ihren Puppenstuben sollten die Seminarteilnehmer ihren Blick schulen und die Theorie an einem konkreten Beispiel anwenden. Ein Tischler baute die Gehäuse und Möbel, die übrige Ausstattung fertigte sie mit eigenen Händen und perfektionistischem Ehrgeiz. Sie strickte mit Stecknadeln Socken aus Nähgarn, praktizierte echte Minen in Bleistifte aus Zahnstochern und echte Kalkränder in eine Badewanne. Für eine Brandruine fackelte sie ein liebevoll eingerichtetes Modell mit dem Gasbrenner ab. Die Winkel von Einschusslöchern in der Wand und die Muster von Blutspritzern waren akkurat berechnet. In einem Szenarium findet man ein wichtiges Indiz nur, wenn man in den kleinen Wandspiegel schaut. In einem anderen müssen die Fehler erkannt werden, mit denen ein unbedarfter Polizist den Fall schon vermasselt hat. Zu jedem Modell gab es Informationen, wie sie die Beamten beim Eintreffen am Tatort haben würden: Datum, Namen, erste Zeugenaussagen.
Neunzehn von Frances Glessner Lees Puppenstuben des Todes sind erhalten und sorgfältig restauriert worden. Sie werden immer noch in Polizeiseminaren eingesetzt.