Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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13. September 1916 Murderous Mary – Elefant vor Gericht

Der neue Tierpfleger hat keine Ahnung, wie man mit Elefanten umgeht. Entsprechend heftig reagiert das Tier. Der Pfleger ist tot. Tot soll nun auch die Elefantenkuh sein, fordern aufgeregte Zirkusbesuchende. Also lässt der Direktor Elefantenkuh Mary hinrichten - per Seil und Kran. Autor: Sebastian Kirschner

Stand: 13.09.2024 | Archiv

13.09.1916: Murderous Mary – Elefant vor Gericht

13 September

Freitag, 13. September 2024

Autor(in): Sebastian Kirschner

Sprecher(in): Caroline Ebner

Redaktion: Susi Weichselbaumer

Ein Streit, ein Schrei, die Schuldfrage: Bei Kindern schmunzeln wir gerne noch, wenn sie die Schuld dem anderen zuschieben. Sie wars, sie wars! – Nein, er hat angefangen! – ICH hab gar nix gemacht – Hast du wohl!

Irgendjemand MUSS halt schuld sein. Die Verfehlung MUSS beim anderen liegen. Bloß nicht selbst schuld sein. Da wird abgelenkt, Schuld abgewälzt, in die Schuhe geschoben, was das Zeug hält. Hauptsache man kommt selbst mit möglichst heiler Haut raus aus der Sache. Ein Verhalten vielleicht so alt wie die Menschheit.

Einer muss halt herhalten

Zumindest musste schon in der Bibel der sprichwörtliche Sündenbock herhalten. Einmal im Jahr musste ein armes, unschuldiges Tier sein Leben lassen, als Opfer für menschliche Fehler. Und glaubt man der Psychologie, dann hat das Ganze sogar eine Funktion. Die Sündenbocktheorie besagt, dass wir Frust abbauen, indem wir den Schwarzen Peter anderen zuschieben.

Noch heute sind Tiere nur zu praktisch dafür. Der Kormoran sei schuld, dass es Deutschlands Fischern schlecht gehe – wobei wir ihn vor rund 100 Jahren so gut wie ausgerottet hatten. Wolf und Bär wären verantwortlich, dass wir nicht mehr unbedacht in den Bergen spazieren können – auch wenn wir sie erst von dort verdrängt haben. Tigermücken und Asiatische Hornissen machen uns den Garten madig – obwohl wir sie mit Globalisierung und Klimawandel erst zu uns geholt haben.

Wie man in den Wald hineinruft ...

Auf die Spitze getrieben wird die Sache mit dem Sündenbock am 13. September 1916 in Erwin, Tennessee, in den USA. Da muss die Elefantendame Mary sterben, und zwar am Hals aufgehängt an einem Industriekran. Grund sind die Ereignisse in den zwei Tagen zuvor. Der Zirkus hatte gerade einen neuen Mann als Elefantenpfleger angeheuert. Doch nach einem Tag hat Mary ihm den Kopf zertreten – und infolgedessen hatten die Bürger energisch den Tod der Elefantin gefordert.

Was war geschehen? Nun, die Wahrheit ist nicht ganz klar angesichts zahlloser Sensationsberichte von damals. Festzustehen scheint: Der Mann, den der Zirkusdirektor als Pfleger anheuert, hat keine Ahnung, von dem was er da tun soll. Ein Obdachloser, der sich zeitweise als Hotelangestellter verdingt. Vielleicht gefrustet, vielleicht nur ahnungslos, soll er Mary mit einem Elefantenhaken kommandiert haben. Die wehrt sich. Vielleicht, weil ihr neuer Pfleger ihren schwer entzündeten Zahn getroffen hat. Das folgert zumindest ein Tierarzt im Nachhinein.

Für die Einwohner von Erwin jedenfalls ist die Schuldfrage klar: Sie wollen die mörderische Mary tot sehen. Der Zirkusdirektor fürchtet den Ruin seines Geschäfts. Vielleicht aus Frust über seinen Fehler, wen er da eingestellt hatte, vielleicht nur um die eigene Haut zu retten nutzt er Mary für eine letzte große Show: Ihre öffentliche Hinrichtung vor über 2000 schaulustigen Menschen.

Am Ende sind der Pfleger und die Elefantin tot, der Zirkus bestenfalls am Ruin vorbeigeschrammt. Und der Ort und seine Bewohner bis heute verewigt als die, die einst den Elefanten gelyncht haben. Psychologische Theorie hin oder her: Mit dem Sündenbock können wir unseren Fehlern vielleicht davonlaufen. Entkommen können wir ihnen nicht.


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