24. August 1864 Sitzkisseneklat in Augsburg: Richard Wagner pöbelt gegen königlich-bairische Bahnbeamte
Wofür man die Eisenbahn gebaut hat scheint klar. Aber für wen? Für Fahrgäste etwa? Oder doch nicht vielmehr für die Verwirklichung der Machtfantasien von Bahnbeamten? Oder in Wahrheit doch für ihn, des Königs Freund, den Meister: Richard Wagner. Das war damals aber wohl weder Conducteur noch Bahnhofsvorsteher geläufig. Autor: Simon Demmelhuber
24. August
Mittwoch, 24. August 2022
Autor(in): Simon Demmelhuber
Sprecher(in): Johannes Hitzelberger
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach
Gehetzt, getrieben, auf der Flucht, schon ein Leben lang: vor Polizisten, Gläubigern, Steuerfahndern, vor dem Misserfolg. 51 ist er jetzt, heillos verschuldet, abgebrannt und ausgelaugt. Es ist vorbei, der Absturz unvermeidlich. Doch dann, im finstersten Moment, das Rettungs- und Erlösungswunder: ein König fängt ihn auf, ein durchscheinend zarter Jüngling, eben erst gekrönt, enthebt ihn aller Not.
Der Kini ruft
Ludwig II. ist Richard Wagners letzte Chance. Er muss sich diesen kunstnärrischen Träumer warmhalten, selbst wenn er wie heute, an diesem 24. August 1864, gottlos früh aufstehen und den Zug nehmen muss. Der König hat ihn nach Hohenschwangau bestellt. Es gibt so viele Feenpaläste auszustaffieren, so viele Seelenräusche auszukosten! O ja, Ludwig ist anstrengend. Aber auch nahrhaft, ein bizarrer Schwan, dessen gerupftes Gefieder dennoch weiche Daunen verspricht.
Wenn nur das Geschaukel nicht wäre. Es rüttelt, ruckelt, irgendwo zieht es immer. Langweilig ist ihm auch. Lesen will er nicht, zum Reden ist niemand da. Wagner reist allein im Coupé I. Klasse. Sein Diener fährt im billigen Waggon und gäbe ohnedies keinen würdigen Gesprächspartner ab.
Ah, schon Augsburg. Hier kann er sich wenigstens beim Warten auf den Anschlusszug die Beine vertreten. Zu früh gefreut, der Bahnsteig ist verdrießlich voll, die Reisenden schieben und drücken. "Is ooch geen Vergniechen". Aber nanu! Der Herr da, das ist doch der Zumbusch aus München! Tatsächlich. Der Bildhauer ist ebenfalls ins Allgäu unterwegs. Endlich Gesellschaft: "Geene Widerrede, mir fohrn zusammn! Awer erstmal ä Schälchen Heeßn in der Bahnhofsrestauration!"
Die Eisenbahn - erbaut für Bahnbeamte?
Wie doch die Zeit verfliegt, wenn sich einer so zahm wie Zumbusch ins Zuhören, Beipflichten, Abnicken schickt. Schon mahnt die Klingel. Rasch zahlen und schnell ans Gleis! Da steht auch schon der Diener mit Wagners Polster und Plaid. Aber warum steigt der Kerl nicht zu? Und wieso redet der Schaffner so hitzig auf ihn ein? Zwei Schritte, und die Sache ist klar: "Reisegepäck ist aufzugeben und gesondert zu bezahlen", bürstet der Conducteur den Komponisten ab, "das kommt so nicht ins Abteil!"
Dafür hat wiederum Wagner jetzt gar keinen Nerv. "Das Zeug kommt mit, damit basta". Geschrei, Gezänk, Geplärre, aber da geht noch mehr: Auftritt des Bahnhofvorstehers, kurze Lageklärung, barscheste Bestätigung des Polster- und Deckenbanns. Das ist zu viel! Wagner reißt Kissen und Decke an sich, katapultiert beides ins Coupé, schwingt sich, den verdatterten Zumbusch im Schlepp, hinterdrein, klatscht dem bebenden Vorsteher noch rasch ein "dummer Mensch!" ins Gesicht, der Zug schnaubt los.
Natürlich hat die Sache ein juristisches Nachspiel. Die in ihrer Amts- und Mannesehre tief gekränkten Herren klagen, es kommt zum Prozess, Wagner wird zu 25 Gulden Strafgeld verdonnert. Sein Verteidiger nimmt das Urteil an und bemerkt, der ganze Aufruhr sei nur darum entstanden, weil viele Beamte immer noch glaubten, die Eisenbahn wäre ihretwillen und nicht für das Publikum gebaut worden.
Nur gut, dass uns Heutigen ein solcher Übermut der Ämter gänzlich fremd geworden ist.