30. Juni 1855 Richard Wagner kehrt nach Zürich zurück
Unbarmherzig legte das Schicksal dem lange nicht gebührend gefeiertem Genie Richard Wagner gnadenlos Steine in den Weg - zumindest wenn man seiner Autobiographie Glauben schenken will. Das war in Wagners Selbstdarstellung natürlich auch während seines London-Aufenthaltes nicht anders. Autor: Markus Vanhoefer
30. Juni
Donnerstag, 30. Juni 2022
Autor(in): Markus Vanhoefer
Sprecher(in): Christian Baumann
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Frank Halbach
Es ist im März des Jahres 1855, als Richard Wagner für einen mehrmonatigen Aufenthalt nach London reist. Der Komponist bezieht ein Appartement in der Nähe des "Regent´s Park". Im Auftrage des Philharmonischen Orchesters soll er acht Konzerte dirigieren. Das Honorar beträgt 200 Pfund.
Der Meister ist unzufrieden
Zum Zeitpunkt seiner Ankunft steht Richard Wagner kurz vor seinem 42sten Geburtstag. Seine berufliche und private Situation ist kompliziert: In Deutschland ist der Komponist ein steckbrieflich gesuchter Revolutionär, deshalb lebt er in Zürich im Exil. Dort bewohnt er eine Villa, die ihm der Fabrikant Otto Wesendonck zur Verfügung stellt. Aus Dankbarkeit ist der verheiratete Wagner gerade dabei, zarte Bande zu Mathilde, der Gattin seines Mäzens, zu knüpfen.
Und auch in der Tonkunst läuft nicht alles rund: Den "Tannhäuser" und den "Lohengrin" hat er mehr oder minder erfolgreich auf die Bühnen gebracht. Die Bayreuther Weihefestspiele, die ihn zum wirkmächtigsten Komponisten einer ganzen Epoche machen werden, sind jedoch noch Zukunftsmusik.
Der Richard Wagner des Jahres 1855 ist unzufrieden. Seine Lebenshaltungskosten, seine Luxusbedürfnisse und sein Wunsch nach Anerkennung sind groß, sein Einkommen dagegen gering. Wenn es einen Ort gibt, der hier Abhilfe schaffen könnte, dann London.
Mitte des 19. Jahrhunderts ist die Hauptstadt des britischen Empire das Wirtschafts- und Finanzzentrum der Welt. Als solches ist London ein Magnet für die besten Komponisten, Virtuosen und Sänger aus ganz Europa. Andere Metropolen mögen kreativer sein, aber nirgendwo sonst lässt sich mit Musik so gut Geld verdienen wie in London. Das ist eine Chance, die Wagner nutzen möchte. Aber wird es ihn gelingen, aus seinem Engagement weiteres Kapital zu schlagen?
Inferno
Wird es nicht! Da ist ein philharmonisches Orchester, das unter seinem Taktstock viel Beethoven muszieren will, aber nur "wenige Bruchstücke" seiner Werke. Da ist ein Publikum, das ihm zwar applaudiert, jedoch nicht so euphorisch wie anderen Dirigenten. Wagner fühlt sich geringgeschätzt, sowohl von der Presse, als auch von der feinen Gesellschaft, die ihm bei Empfängen von der Musik seines Intimfeindes Felix Mendelssohn-Bartholdy vorschwärmt. Ein Lichtblick in Londons kulturellen Nebelschwaden ist ein Treffen mit Königin Victoria und Prinz Albert. Leider ist Wagner nicht in der Lage, das royale Wohlwollen in klingende Münze zu wandeln.
Der Mythos Richard Wagner ist auch die von ihm selbst geschaffene Saga vom tragischen Genie, das unbeirrt seinen Visionen folgt, während ihm das unbarmherzige Schicksal ständig Steine in den Karriereweg legt.
Nach vier enttäuschenden Monaten packt der Meister die Koffer, begleitet von melodramatischem Lesestoff: "Mit völliger Verzweiflung warf ich mich auf die Lektüre des Dante, dessen ‚Inferno‘ durch die Londoner Atmosphäre (!) für mich eine unvergessliche Realität bekam".
Nach einem Zwischenstopp im "heiteren Paris" kehrt Richard Wagner am 30. Juni 1855 nach Zürich zurück. "Mit der reinen Ausbeute eines Gewinnes von gerade 1.000 Franken", wie er in seinen Lebenserinnerungen beklagt.