4. Januar 2017 Radfahrer Robert Marchand stellt Rekord auf in der Altersklasse "105+"
Für etliche kommt mit der Rente der Stillstand. Für den Franzosen Robert Marchand nicht. Er entdeckt seine Leidenschaft fürs Rennradfahren und stellt bis ins hohe Alter einen Rekord nach dem anderen auf, sehr zum Verdruss seiner Ärzte, die um seine Gesundheit bangen. Autor: Thomas Grasberger
04. Januar
Donnerstag, 04. Januar 2024
Autor(in): Thomas Grasberger
Sprecher(in): Christian Baumann
Redaktion: Susi Weichselbaumer
Der Lauf des menschlichen Lebens erinnert gelegentlich an eine Sanduhr. Unmerklich rieselt das Schüttgut vom oberen Glaskolben durch die Engstelle hinab in den unteren. Anfangs wirkt das Ganze noch recht statisch, Bewegung ist kaum zu erkennen. In dieser frühen Phase seines Daseins hat der Mensch noch Zeit wie Sand am Meer. Denn beide, Sand wie Zeit, verrinnen - zumindest dem Anschein nach - so gut wie gar nicht. Aber je mehr Zeit-Sand durchgelaufen ist, desto dynamischer wird das Geschehen. Immer schneller scheint es dahinzugehen, unaufhaltsam. So als raste man mit dem Fahrrad einen Berg hinunter, der steiler und steiler wird. Das Ende ist absehbar, und die Frage, wie die wilde Jagd aufzuhalten sei, stellt sich immer drängender.
Was geht sich noch aus?
Um es vorwegzunehmen, auch Robert Marchand konnte diese Frage nicht ein für alle Mal beantworten. Aber immerhin hat der Franzose, Jahrgang 1911, eine Methode gefunden, wie sich das unerbittliche Verrinnen von Lebenszeit etwas hinauszögern lässt. Nämlich mit Hilfe eines Rennrads.
Was nicht verwundert, denn Monsieur Marchand war immer schon einer von der flotten Truppe. Als junger Mann bei der Pariser Feuerwehr ebenso wie später in Kanada, wo der Auswanderer als schlagkräftiger Holzfäller seine Baguettes verdiente. Mit über 50 Jahren nach Frankreich zurückgekehrt, arbeitete er noch einige Zeit als Gärtner und Weinhändler. Seinen Ruhestand hatte er sich also redlich verdient.
Was könnte man noch anfangen?
Aber einfach nur dasitzen und zuschauen, wie Rest-Sand durchs Lebensglas bröselt, das war Robert Marchands Sache nicht. Der Rentner entsann sich einer alten Leidenschaft und stieg nach langer Zeit wieder einmal auf sein Rennrad. Mit nunmehr 67 Jahren begann für ihn ein neues Leben. Der kleine Monsieur - er maß nur 1 Meter 52 und wog gerade mal 50 Kilogramm - wurde bald ein ganz Großer des Seniorenradsports. Was natürlich nicht ohne Fleiß und Ehrgeiz zu haben war. Selbst seinen hundertsten Geburtstag verbrachte Marchand auf einem Hometrainer, denn er war wild entschlossen, den Stundenweltrekord für über 100-Jährige aufzustellen. Was ihm auch gelang. Aber Schluss war danach längst noch nicht. Immer weiter radelte der Greis im Kreis, denn das Rennen gegen die Zeit half ihm, das unerbittliche Rieseln der Sanduhr zu vergessen.
Am 4. Januar 2017 stellte Robert Marchand im Vélodrome National bei Paris einen weiteren Stundenweltrekord auf - in der eigens für ihn geschaffenen Klasse "105+". Seine Ärzte sahen es mit bangen Blicken und rieten: "Arrêtez, monsieur! Hören Sie auf mit den Radrennen!" Widerwillig gehorchte der älteste Sportler der Welt und ließ seine Karriere langsam auslaufen. Aber von Stillstand konnte immer noch keine Rede sein. Das langjährige Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs engagierte sich noch eine ganze Weile bei Wahlkämpfen in seiner Region. Als im Mai 2021 das letzte Körnchen durch die Sanduhr lief, war die wunderbar bewegte Fahrt des Monsieur Marchand endgültig zu Ende. Nach 109 Jahren und fast sechs Monaten.