Bayern 2 - Das Kalenderblatt


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23. Juli 1908 Victoria Ocampo beklagt sich

Mit 19 Jahren beklagt sich Victoria Ocampo am 23. Juli 1908 über ihr großbürgerliches Elternhaus: Sie darf nicht die Bücher lesen, die sie möchte. Später gründet die argentinische Intellektuelle die Kulturzeitschrift "Sur". Autorin: Astrid Mayerle

Stand: 23.07.2020 | Archiv

23.07.1908: Victoria Ocampo beklagt sich

23 Juli

Donnerstag, 23. Juli 2020

Autor(in): Astrid Mayerle

Sprecher(in): Krista Posch

Illustration: Tobias Kubald

Redaktion: Frank Halbach

Man leistet sich Dekor. Im Zug öffnen die Damen das Abteilfenster mit bestickten Satinhandschuhen, Herrenschneider lassen die Anzugknöpfe eigens aus Italien importieren, und sogar Pfeffermühlen tragen bei Tisch ein samtenes Etuit. Allerdings, so überliefern es Romane über das großbürgerliche Leben Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts: Bildung erhalten die französischen, englischen und amerikanischen Mädchen aus gutem Hause ebenfalls nur in der Funktion eines Dekors. Privatschulen verleihen ihnen "den letzten Schliff", und das Lesen soll sie vor allem konversationsfähig machen für bestimmte Kreise, um dort auf einen Mann zu stoßen, bei dem sie mit Dante, Shakespeare und Thackeray brillieren können.

Bis die letzte Erbschaft schwindet

Zu den Privilegien der guten Kinderstube gehört zweifellos ein Zeitgefühl, welches die Zeit selbst durchweg vergessen macht und solchen Unannehmlichkeiten wie Erwerbsarbeit völlig enthoben ist. Junge Menschen sind hauptberuflich Söhne oder Töchter, ohne, dass dies irgendwo explizit erwähnt würde. Das Leben junger Damen besteht aus den Besuchen der Schneiderinnen, den erhaben Ausblicken von Loggien, Segelausflügen, Einladungen, Scharaden, Bällen und: hochdosierter Bewunderung. Obwohl sich die verschiedenen Amüsements oft in dichter Abfolge aneinanderreihen, hält man die Notwendigkeit für die Erfindung eines Begriffs wie "Zeitmanagement" keinesfalls für gegeben. Zeit ist eine unerschöpfliche Ressource und ein Feiertag bestenfalls dann anstrengend, wenn ein Erbschaftsgespräch ansteht. Was Dinge kosten, wissen nur die Bediensteten, und daher gewinnt der Preis von Mobiliar, Hauspersonal und Humidoren erst an Relevanz, wenn auch die letzte Erbschaft allmählich zur Neige geht.

Die argentinische Intellektuelle Victoria Ocampo teilt mit diesen Romanfiguren immerhin ein paar Gemeinsamkeiten: Privatlehrerinnen, luxuriöse Hotels und Afternoontea auf der auslandenden Terrasse einer Privatvilla. Dabei bleibt es dann aber auch - ihrer Meinung nach.

Denn die Privilegien einer guten Kinderstube hat Victoria bereits früh durchschaut. Am 23. Juli 1908 schreibt sie im Alter von 19 Jahren, dass sie auch Schopenhauer, Nietzsche, Renan und Voltaire lesen möchte. Aber wie? Dies sei ihr nämlich von den Eltern verboten. Als ihre Mutter eines Tages unter Victorias Kopfkissen ein Buch von Oscar Wilde entdeckt, wird dieses sofort konfisziert. Auch nachdem die Tochter mit einem Sprung aus dem Fenster des Hotelzimmers droht, bleibt das Buch verschwunden.

Spitzen des europäischen und argentinischen Geisteslebens

Umzingelt von Verboten - keine Fahrradausflüge, keine Tangoabende, keine Verabredungen mit Männern - beschließt Victoria, dass immerhin Geld glücklich machen kann. Und zwar, wenn man es nur richtig investiert: in Reisen und Einladungen. Mindestens ein Erbe verschlingt der Verlag für die von ihr 1931 gegründete Kulturzeitschrift "Sur". Victoria Ocampo gelingt es, die Spitzen des gesamten europäischen und argentinischen Geisteslebens für ihr Projekt zu gewinnen: Unter den Autoren sind Jorge Luis Borges, Albert Camus, Walter Gropius, C.G. Jung und Virginia Woolf.

Ob Victoria Ocampo von Herren mit italienischen Anzugknöpfen verehrt wurde, ist nicht überliefert, jedoch hat der Dichter und Literaturnobelpreisträger Rabindranaht Tagore ihr gestanden, er bedauere zutiefst, dass es ihm nie möglich war, alle Facetten ihrer Persönlichkeit kennenzulernen.


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