17. Mai 1793 Wackenroder und Tieck proben das romantische Leben
Hineingreifen ins volle Menschenleben, die Natur erleben mit allen Sinnen, das Lied finden, das in allen Dingen schläft - für die Studenten Ludwig Tieck und Wilhelm Heinrich Wackenroder ist klar: Sie wollen die Bibliothek eintauschen gegen das romantische Leben. Also reisen sie los. Autor: Simon Demmelhuber
17. Mai
Dienstag, 17. Mai 2022
Autor(in): Simon Demmelhuber
Sprecher(in): Johannes Hitzelberger
Illustration: Tobias Kubald
Redaktion: Susi Weichselbaumer
Vernunft! Immer nur Vernunft, Verstand, Gesetze, Regeln! Das reicht nicht! Schluss damit! Die jungen Wilden der Frühromantik wollen keine Schranken und Schubladen mehr, weder im Leben, noch in der Kunst. Sie feiern die Poesie, das entgrenzte, entfesselte Ich, den Einklang von Mensch und Natur. Und sie steigen hinab ins Bergwerk der Träume, Ängste, Ahnungen, wo sich Dichtung in Leben und Leben in Dichtung verwandelt.
Aufbruch und Ausbruch
Ausbrechen, dem grauen Zweck und der Enge entfliehen, wollen auch Ludwig Tieck und Wilhelm Heinrich Wackenroder. Beide, kaum 20, Herzensfreunde seit Kindertagen, stecken fest im falschen Leben: Tieck täuscht vor, in Göttingen Theologie und Geschichte zu studieren, will aber nur dichten. Wackenroder würgt, vom Vater verdonnert, in Berlin lustlos am Studium der Rechte. Briefe gehen hin und her, in denen zwischen Daseinsjammer und Kunstgetöse der Entschluss für ein gemeinsames Sommersemester in Erlangen reift: Endlich leibhaftig, endlich mit allen Sinnen eintauchen in die Dürerwelt des Mittelalters, der Ritterburgen und Fachwerkhäusern, der Felsgebirge Waldeinsamkeiten und frommen Mysterien.
Romantisches Franken
Die Sache lässt sich gut an. Schon in Erlangen gehen dem eher zugeknöpften Wackenroder und erst recht dem hochentzündlichen Tieck die Augen über. Dabei steht das Beste noch bevor: ein Pfingstritt ins Fichtelgebirge, elf sorglose, müßig schweifende Tage auf den Spuren fahrender Herzenspilger einer vergangenen Zeit.
Der erste romantische Feldversuch der Kunst- und Literaturgeschichte beginnt am 17. Mai 1793. Erlangen schläft noch, als die beiden Studenten in aller Herrgottsfrüh die Pferde satteln. Der Morgen ist kalt, glasig und grau, aber bald geht die Sonne auf, die ersten Farben springen an. Und dann ist alles ein erstes Mal, ein erstes Sehen, Riechen, Hören, das alles zum Klingen bringt: Tau funkelt, Bäche murmeln, Wälder rauschen, Wiesen duften, Burgen grüßen, nachts schimmern Sterne und der Mond steigt auf, groß und rund wie ein gelbes Erstaunen.
Jeder Tag führt tiefer hinein in die Einsamkeit des Fichtelgebirges. Je höher sie kommen, desto verlassener, steiler, rauer wird der Weg. Von Riesenhand hingeworfen, türmen sich moosbärtig und wild zerklüftete Granitmassen auf. Wackenroder kann weder dem Felsenchaos noch der waghalsigen Reiterei viel abgewinnen. Zwischen Büchern und Bildern, das spürt er von Stunde zu Stande klarer, ist ihm weit wohler als im Freien und im Sattel. Tieck aber schwärmt sich mit jeder Meile mehr in eine rauschhaft jubelnde Naturekstase hinein. Als eines Abends der ferne Klang eines Waldhorns durch die Mondstille weht, ist es um ihn geschehen. "Da war mir", schreibt er, "da war mir, als könnte ich die Geister sehen, die der wunderbare Ton aus den Wolken zieht und die über der Ferne schweben, und ich wurde aus mir selbst hinausgezaubert."
Und so bleibt es. Wie der Venusberg den Tannhäuser, gibt das Fichtelgebirge Ludwig Tieck nicht mehr frei. Im Jahr darauf wirft er das leidige Brotstudium hin, beginnt zu schreiben und füllt mit den Erlebnissen der Frankenreise das sehnsuchtsblaue Musterbuch der Frühromantik.