24. Dezember 1914 Friede auf Erden: Das Weihnachtswunder an der Westfront
Weihnachten im Ersten Weltkrieg an der Westfront: Die Waffen schweigen. Von den Generälen befohlen hat das keiner. Und schon gar nicht dass sich etwa deutsche Soldaten mit den britischen Feinden verbrüdern. Doch die Soldanten schufen in den Schützengräben ein Weihnachten in Ruhe und ohne Todesangst. Autor: Simon Demmelhuber
24. Dezember
Dienstag, 24. Dezember 2024
Autor(in): Simon Demmelhuber
Sprecher(in): Irina Wanka
Redaktion: Frank Halbach
Drauf mit Hurra! Über Belgien nach Paris! Blitzsieg, Triumph total und ab nach Hause! Im August 1914 setzt das deutsche Kaiserreich sieben Armeen gegen Frankreich in Marsch. "Weihnachten sind wir wieder daheim" steht auf den Eisenbahnwagons, die Millionen meist blutjunger Soldaten an die Front im Westen schaffen. Doch schon im September steckt der Krieg in Flandern fest. Die Heere graben sich ein, lauern in Dreck und Schlamm verschanzt auf den Feind. Hundertausende verbluten im Drahtverhau, werden zerhackt, verbrannt, verschüttet, an Leib und Seele für immer verstümmelt.
Heimweh
Weihnachten wieder daheim? - Hat sich zerschlagen! Es ist Krieg. Selbst am 24. Dezember. In den Schützengräben bei Ypern liegen sich Briten, Belgier, Deutsche und Franzosen auf Ruf- und Hörweite gegenüber. Starker Frost hat eingesetzt. Über der gefrorenen Erde steht ein kalter Mond. Die deutsche Feldpost hat Briefe und Pakete gebracht. Äpfel, Nüsse, Lebkuchen, Stollen, Tannenzweige und künstliche Christbäume mit richtigen Kerzen vom Kaiser. Auch die Briten, Franzosen und Belgier packen Geschenke aus. Kämpfen will heute niemand. In allen wühlt das Heimweh, allen ist eng in der Brust. Wie es zuhause wohl steht, wo Eltern, Geschwister, Frauen, Kinder, Freunde jetzt feiern?
Da und dort steigen Lieder aus den Erdgruben auf. Auf Englisch, Deutsch, Flämisch oder Französisch weht es hin- und herüber, so nah, dass einer den anderen hört. Die Worte klingen fremd, die Melodien kennt jeder. Eine Stimme fängt an, eine zweite fällt ein, eine dritte, vierte brummt mit, zuletzt ziehen Stille Nacht, Silent Night, Douce Nuit abwechselnd oder vielsprachig in- und miteinander verflochten am selben Strang.
Frohe Weihnachten
Sterne flimmern. Jemand stellt einen Christbaum mit brennenden Kerzen auf den Grabenwall, immer mehr Lichter und Laternen leuchten. Schließlich zeigt sich einer auf der Brüstung, wünscht "Merry Christmas, Frohe Weihnachten, Joyeux Noël!". Anderswo wagt sich Soldat in den Todesstreifen, ruft "no shooting tonight, nicht schießen, Kameraden, lasst uns die Toten begraben". Zurufe, Zustimmung, Beifall ringsum. Segenswünsche und Weihnachtsgrüße gehen hin und her. Dann bricht drüben einer auf, das Gewehr unter einem, die Whiskyflasche unterm anderen Arm. Den ersten folgen viele. Gemeinsam bergen sie die Gefallenen, stehen beisammen, rauchen, trinken und spüren, wie gelernter Hass vor einem Gruß, einer ausgestreckten Hand, einem Scherz kapituliert
An vielen Stellen der Westfront verbrüdern sich gegnerische Soldaten spontan. Statt aufeinander zu schießen, verlassen mehrere Zehntausend ihre Unterstände und Schützengräben. Sie rollen Bierfässer ins Niemandsland, teilen Schnaps, Schokolade, Tabak und Konserven, sie feiern Gottesdienste, lachen, musizieren, spielen Karten oder Fußball, schneiden sich gegenseitig die Haare, tauschen Adressen aus, palavern mit Händen und Füßen, wo Wörter fehlen.
Vier, manchmal auch nur einen, zwei oder drei Tage währt das Weihnachtswunder an der Westfront. Dann befehlen die Generäle, das unsoldatische Verschwistern einzustellen. Es ist wieder Krieg. - Warum eigentlich?