Neuerscheinungen der Woche Neue Alben von Kim Gordon, Bleachers und Bacao Rhythm & Steel Band
Die Neuheiten der Woche im kompakten Überblick. Mit Kim Gordon, Bleachers, Moor Mother, Bacao Rhythm & Steel Band, Dabrye, Doc Sleep, Hjirok und Anja Huwe.
Kim Gordon - The Collective
30 Jahre lang - von 1981 bis 2011 - bildete sie das rhythmische Rückgrat von Sonic Youth. Kim sang, ebenso wie ihr Ex-Mann, Thurston Moore. Nach Scheidung des Dream-Couples des US-Undergrounds und Auflösung der New Yorker Band, zog Kim in ihre alte Heimat Los Angeles. Mit ihrem ersten Solo-Album „No Home Record“ sprang sie 2019 sogar in die deutschen Charts. Sie schafft es, den Anti-Pop von Sonic Youth mit den Mitteln der Gegenwart ins Heute zu holen: durch eine kaputte Art von Trap, zu dem ihr Sprechgesang bzw. Nicht-Gesang passt. Produziert von Justin Raisen (Lil Yachty, Yves Tumor, John Cale). „Bye Bye“ ist eine Liste von Lied, in dem Kim aufzählt: „Kaufen Sie einen Koffer, eine Hose, Laptop … Wimpernzange, Vibrator, tschüss“. Vielleicht ihr Reiseset? Im Video ist ihre (und Thurstons) Tochter Coco Moore zu sehen. Eine weitere Single ist „I´m A Man“, ein wütend intoniertes Lied über männliche Ausreden mit den Textzeilen: „Es ist nicht meine Schuld. Ich bin als Mann geboren worden. Und wenn mir der große Truck gefällt. Nenn´ mich nicht ´toxisch´. Weil ich ein Mann bin.“ Das Album erscheint zur richtigen Zeit: am Weltfrauentag. Am 1. Juli 2024 gibt die Ikone in München ihr einziges Deutschland-Konzert! (7,9 von 10 Punkten)
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Kim Gordon- "I'm a Man" (Official Music Video)
Bleachers - Bleachers
Bleachers ist die Band von Jack Antonoff. Der ist bekannt als Produzent von Taylor Swift, Lorde, St. Vincent, Florence and the Machine, The 1975 und Lana Del Rey. Es ist das vierte Album der Band. Die drei Vorgänger schafften es in die US Top40. Der leichte Indie-Pop-Sound ist beeinflusst von den Highschool-Filmen von John Hughes und klingt manchmal nach einer jungen, frischen Version von The National. Was auch an der Art des Singens von Jack Antonoff liegt. Dabei verbindet man seinen Namen viel mehr mit „Produzent“: Antonoff hat gerade zum dritten Mal in Folge bei den Grammys den Preis als „Producer of the Year“ gewonnen.
Dabei ist er nicht nur für die Stars da, sondern auch für seine Kumpels in der Band. Die Bleachers kommen wie er von der US-Ostküste und müssen vermutlich viel auf ihn warten. Antonoff erklärt denn auch, worum es auf „Bleachers“ geht. „Isimo“ ist nicht nur sein Lieblingslied der Platte, er hält es für seinen besten Song überhaupt. „Modern Girl“ sei die neue Hymne der Band voller Insider-Jokes, „Jesus Is Dead“ ist seiner Meinung nach das Stück, das die Welt heute am besten beschreibt. Glaubensverlust verhandelt er auch in „Woke Up Today“ – in dem es um den frühen Krankheits-Tod seiner Schwester geht, „Self Respect“ handelt vom Kampf mit Perfektion und Selbst-Ansprüchen, „The Waiter“ befasst sich mit den Konflikten und Krankheiten, unter denen er lange litt – das im Schlussstück „Ordinary Heaven“ endet: dem Lob-Lied übers Nachhausekommen zu seiner Frau (Schauspielerin Margaret Qualley, davor war Antonoff unter anderem mit seiner Klassenkameradin Scarlett Johansson und Lena Dunham zusammen). Dazu die zehn Grammys. Jacks Leben liest sich wie ein Film. (7,3 von 10 Punkten)
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Bleachers - Tiny Moves (Official)
Moor Mother - The Great Bailout
„Die hässlichen Realitäten des britischen Kolonialismus“ sind das Thema auf der neunten Platte von Camae Ayewa aka Moor Mother. Die man auch als Teil von Irreversible Entanglements, 700 Bliss und Moor Jewelry kennt. Wir hören düsteren Spoken Word-Sound über Sklaverei & Rassismus, verpackt in wütende Statements bzw. zynische Beobachtungen. Pitchfork nannte sie schon „poetische Preisträgerin der Apokalypse“. Unterstützt wird sie hier von Angel Bat Dawid, Mary Lattimore und Lonnie Holley. Jazz und Soul sind endgültig Noise- und Drone-Sounds gewichen. Für Moor Mother ist es ihr kompromisslosestes Werk: "Europa und Afrika hatten im Laufe der Zeit eine sehr intime und brutale Beziehung. Ich bin daran interessiert, diese Beziehung von Kolonialismus und Befreiung zu erforschen - Vertreibung und ihre Auswirkungen werden nicht genug diskutiert."
Es geht (noch) gegen die (weiße) Queen, die für sie für 'Anti-Blackness' steht, und gegen alle europäischen Kolonialstaaten. Aber insbesondere gegen Großbritannien: Moor Mother wirft dem UK zum Beispiel vor, nach dem Ende der Sklaverei den früheren Sklavenhaltern eine Entschädigung gezahlt zu haben, für entgangenen „Gewinn“. Die letzten Kreditschulden für die ´Entschädigung´ wurden erst 2015 abbezahlt, das heißt sogar die Windrush-Generation der aus der Karibik gekommenen Einwanderer hat zur Tilgung beigetragen (!). „Man bedenke, dass die Vorfahren zweier britischer Premierminister (u. a. David Cameron) diese ´Entschädigung´ erhielten, jedoch kein einziger der Versklavten,“ empört sie sich. Für Moor Mother eine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Die Professorin, Künstlerin und Musikerin Ayewa hat ein gutes Gefühl für Wunden, in die sie ihre künstlerischen Hände legt. Hoffen wir, dass der Titel bewirkt, was er verspricht: ´die große Rettung´. (7,2 von 10 Punkten)
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Moor Mother - "ALL THE MONEY" (feat. Alya Al-Sultani)
Bacao Rhythm & Steel Band – BRSB
Ein Hamburger Musiker bringt aus Trinidad & Tobago eine Steel Pan (Steel Drum) mit. Das Nationalinstrument des karibischen Inselstaates wird sein Signature Sound. Den sommerlich wirkenden Klang kennt man zum Beispiel von „Body Movin´“ von den Beastie Boys oder „Every Little Thing She Does Is Magic“ von The Police. Aber auch Indie-Acts wie Jamie xx oder The Knife benutzen sie: die Steel Pan. In den USA nennt man die Stahlpfanne ´Steel Drum´. Björn Wagner, eigentlich Gitarrist bei der Funk & Soul-Band The Mighty Mocambos, gründete für das neu entdeckte Instrument den Ableger Bacao Rhythm & Steel Band. Das Wort „Bacao“ hat – wie „Mocambo“ – keine tiefere Bedeutung und soll nach Karibik klingen. Welch Ehre: Bacao Rhythm & Steel Band landeten gleich mit dem Debüt beim gefeierten Label von Leon Michels in New York – dem begehrten US-Studio-Mucker (The Black Keys, Sharon Jones & The Dapkings, Aloe Blacc) und Live-Drummer vom Wu-Tang Clan. Auf dem vierten Album bringen die Hamburger diesmal Steel Drum-Covers unter anderem von Drake, Stranger Things, Game & 50 Cent, Dr Dre & Snoop, Tupac, Mura Masa & ASAP, Claudja Barry. Die Öko-Bilanz für diesen Karibik-Kurztrip kann sich sehen lassen. (7,8 von 10 Punkten)
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Bacao Rhythm & Steel Band - Hazy Memories
Dabrye – Super-Cassette
Nach sieben Jahren wieder neues Material des Beatbastlers Tadd Mullinix. Wie der Albumname schon sagt: ein Tape, das die neuen, minimalen Beats des US-Amerikaners zeigt, der zum Millennium in Michigan loslegte. Für Dabrye (ausgesprochen: Da-brie) haben schon MCs wie Ghostface Killah, Danny Brown und MF Doom gerappt. Er holt seine Einflüsse aus Mangas, VHS-Kassetten, Früh-Elektronik-Platten, Drum'n'Bass-Intros und vor allem: vergessene Library Music. Schön, dass der frisch gewordene Papa wieder Zeit für neue Instrumentals hatte, Anspieltipps sind: "Bug Copped Village Gini", "Whoever Got You's Gonna Get Got Too" und "Pearlclutcher". Die Kassette bleibt das Lieblings-Format des Pete Rock-/Boom Bap-Fans mit der ganz eigenen, verrauschten Klanganmutung: „Man nimmt darüber Stille auf, aber man hört den Geist trotzdem“. Wer kein Kassettendeck mehr hat: die Songs gibt’s auch digital. (7,7 von 10 Punkten)
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Dabrye - The Most Deliciousest (Official Audio)
Doc Sleep - Cloud Sight Fade
Melissa Maristuen ist Doc Sleep und "Cloud Sight Fade" das zweite Album der DJ-Produzentin. Das bewegt sich zwischen sanft-ätherischem House, geschmackvoll federnden Breakbeats und zartem Techno-Electro bzw. den queeren Clubs von San Francisco und Berlin, wo sie inzwischen wohnt. Maristuen sagt, dass dieses Werk ein Liebesbrief an die herrliche Naturlandschaft der Westküste und das Licht des Sonnenaufgangs am Pazifik sei: „Während es in traumhafte Texturen und Melodien gehüllt ist, ist dies auch ein Album über die Verkörperung und die Erinnerungen, die in unserer körperlichen Form leben.“ Eine Club-Platte, die auch zuhause funktioniert. (8,0 von 10 Punkten)
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Water Sign
Xmal Deutschland – Early Singles 1981-1982
Xmal Deutschland waren eine der ersten Goth-Bands im Lande. Anfangs eine reine Frauenband aus Hamburg, mit hochtoupierten Haaren und streng schwarzer Kleidung. Man könnte sagen: die deutschen Siouxsie & The Banshees. Anton Corbijn schoss die Band-Fotos, John Peel lud sie zur BBC-Session ein, sie spielten als Support Act für die Shoegaze-Pioniere Cocteau Twins – was zu einem Labeldeal in England führte und Xmal Deutschland weltweit bekannt machte. Was eine Karriere. 1990 lösten sie sich auf. Nun also eine Singles-Compilation der aufgelösten Hamburger Band und zwar beim renommierten US-Indie Sacred Bones (Home of David Lynch, Anika) – u. a. sind mit „Incubus Succubus“ und „Kälbermarsch“ zwei der frühen Meisterwerke der Band dabei. Und parallel dazu kommt – Surprise! - das erste Solo-Album von Xmal-Deutschland-Sängerin Anja Huwe. (7,5 von 10 Punkten)
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Xmal Deutschland - Incubus Succubus (Official Audio)
Anja Huwe - Codes
Nach 34 Jahren schenkt die XMal Deutschland-Sängerin den Fans ihr spätes Debüt. Nach dem Ende der Band hatte sie seit den 90ern genug zu tun: Chefin der TV-Sendung „Housefrau“ auf Viva, Kunst in New York, ein Magazin fürs Brooklyn Art Museum und immer wieder Anfragen, ob sie nicht wieder Musik machen wolle. Es dauerte bis zum Lockdown, obwohl sie ihre Freundin und Musikerin Mona Mur immer wieder drängte. Die entscheidende Anfrage kam von einem israelischen Metal-Musiker. In Gesprächen mit Jishai erfuhr Anja die Geschichte seines Großvaters, die sie so faszinierte, dass daraus nicht nur ein Song, sondern ein ganzes Album entstand: sein Opa musste sich im Zweiten Weltkrieg in sumpfigen Wäldern verstecken, im Gebiet, wo heute Belarus, Polen und Ukraine liegen. Deshalb hören wir in den deutschen und englischen Texten so oft von "forests", Dunkelheit und Alleinsein. Huwe hat auch die Videos zu den Songs selbst gemacht. Man darf gespannt sein, wie groß die Patin des deutschen Goth-Pop mit ihrem langersehnten Solo-Werk noch einmal einsteigen kann. An eine Live-Umsetzung ist noch nicht gedacht, sagte sie uns im Popcast März von Goethe Institut und Zündfunk. (7,6 von 10 Punkten)
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Anja Huwe - Rabenschwarz (Official Video)
Hjirok – Hjirok
2022 waren sie der Schluss-Act beim Puch Open Air nördlich von München, das der Bayern 2 Zündfunk jährlich präsentiert. Hjirok entführten das Publikum in eine Art orientalische Nacht. Andi Toma, bekannt als eine Hälfte des experimentellen Electronic-Duos Mouse On Mars und die Sängerin Hani Mojtahedy bringen nun ihr Debüt. Hani und Andi waren in Erbil im Irak und nahmen dort drei Percussionisten und einen Setar-Spieler (Langhalslaute) auf. Sie spielten Rhythmen, die sie noch aus der Zeit kannte, als sie als Kind bei ihrem Großvater im Iran aufwuchs: hypnotische Sufi-Musik, die die tanzenden Derwische in Trance treibt, dazu ekstatische Gesänge. Den Grooves und Hanis Stimme fügt Toma vorsichtige elektronische Elemente hinzu. Die Geschichte, die die acht Stücke erzählen, ergeben einer persönliche und zugleich politische Geschichte. Mojtahedy verließ den Iran vor 20 Jahren, kam 2010 nach Berlin. „Seitdem nutzt sie ihre Kunst als Plattform, um für die Rechte des kurdischen Volkes und der Frauen unter repressiven Regimen einzutreten“, so Andi Toma. Sie darf nicht mehr in den Iran zurückkehren. „Hani singt für Gleichberechtigung und es gibt Leute, die davor Angst haben – vor ihrer Weiblichkeit“. Aber auch der vom Menschen verursachte Klimawandel spielt eine Rolle in der Arbeit dieses Duos. Der Name ´HJirock´ ist eine von Hani erfundene Kunstfigur – „um dieser mythischen Gestalt eine Bühne zu bieten“, wie sie sagt. (7,4 von 10 Punkten)
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HJirok — Maly Men (Official Video)
Olof Dreijer – Coral EP
Olof Dreijer ist die eine Hälfte von The Knife solo. Der dänische Elektronik-Produzent zaubert wieder mal seine ureigene Mischung aus bassknalligem Tropical House, futuristischer Ambientronica und verspulten Home Listening Beats, mit vielen Natur-Sounds und bewusst freundlich gehaltenen Klängen. Die EP bringt ihn zurück in die Clubs und auf die Festivals: Dreijer legt unter anderem beim Dekmantel Festival Amsterdam, Oya Oslo, Pop Messe Brno, Sonár Barcelona, Sonár Istanbul und beim Unsound Krakow auf. Und natürlich in seinem eigenen Club, den er 2023 in Stockholm gründete: Bamba. Auch dort ist ihm eines wichtig: Tanzen in warmer, freundschaftlicher Atmosphäre. Olof ist und bleibt ein Visionär. (8,1 von 10 Punkten)
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Olof Dreijer - 'Coral' (Official Video)