Joe Strummer London Calling
Am 22. Dezember 2002 starb völlig unerwartet Joe Strummer nach einem Spaziergang mit seinen Hunden. Der 50-Jährige hinterließ mit der Band The Clash, deren Kopf und Sprachrohr er einmal war, ein bleibendes Vermächtnis. Musikalische Klassiker, die auch über 30 Jahre nach ihrer Entstehung nichts von ihrer Kraft eingebüßt haben.
Es war wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel und traf die Fans weltweit. Am 22. Dezember 2002 starb völlig unerwartet Joe Strummer. Nach einem Spaziergang mit seinen Hunden kollabierte der 50-Jährige in seinem Landhaus in Sommerset. Herzinfarkt. Ein nicht erkannter, angeborener Herzfehler war die Ursache. Einen Tag zuvor hatte Joe Strummer noch mit seiner ganzen Familie nach einer mehrmonatigen Tour mit seiner Band, den Mescaleros, ein Wiedersehen gefeiert.
Mit der Band The Clash, deren Kopf und Sprachrohr er einmal war hinterlässt er ein bleibendes Vermächtnis. Joe Strummers nicht nachlassende musikalische Neugier und sein Feuer zeigten, dass Punk weit mehr sein konnte als dumpfes, geistloses Drei-Akkorde-Geschrammel. Er blickte immer über den Tellerrand und integrierte Folk, Blues, Jazz, Reggae und andere globale Volksmusiken und Pop-Phänomene in seinen musikalischen Kanon. Dabei kam es ihm immer um die Haltung an. Mit seinen Songtexten, in denen er politische und soziale Themen aufgriff, setzte er Maßstäbe.
Vom Diplomatensohn zum Grafikkünstler und Musiker
"Du musst die Atmosphäre eines Songs spüren", so das Credo von Joe Strummer. Er wurde am 21. August 1952 als John Graham Mellor im türkischen Ankara als Sohn eines britischen Diplomaten geboren und besuchte eine Privatschule in London. Seine künstlerische Laufbahn verlief im Gegensatz zu diesem privilegierten Hintergrund, wenngleich seine Herkunft die kosmopolitische Haltung gefördert haben mag, die ein so bedeutendes Charakteristikum von The Clash als auch seiner späteren Solo-Aufnahmen und seiner Arbeit mit den Mescaleros war.
Als Grafikkünstler zeigte er Talent an der Central School of Art and Design in London sowie dem Newport College of Art in Wales. Doch die Musik nahm zunehmend seine Zeit in Anspruch, so dass er schon bald nach London zurück ging und sich Hausbesetzern im Westteil der Stadt anschloss. Für eine Weile spielte er unter dem Namen Woody Mellor - eine Verbeugung vor dem großen amerikanischen Songwriter Woody Guthrie - in einer Band namens The Vultures, bevor er sich Joe Strummer nannte und zu den 101ers wechselte.
Die 101ers bedeuteten sowohl für die Entwicklung von Strummers eigenen musikalischen und politischen Wahrnehmungen als auch für die aufblühenden Punk-Szene einen Wendepunkt. Die Ablehnung der pompösen, aufgeblasenen Monstrosität, die unter der Bezeichnung Progressive Rock von den großen Musik-Konzernen vermarktet wurde, geschah Mitte der 70er Jahre fast ausschließlich in den Kreisen der Rhythm-and-Blues-Pubs. In der Pub-Rock-Szene entwickelten die 101ers ihren schnellen, dynamischen Rock'n'Roll. In dieser Zeit legte Joe Strummer sein musikalische Fundament, er spielte sich sozusagen den Arsch ab und hatte von Woody Guthrie, Howlin Wolf, Johnny Cash, Bo Diddley bis hin zum frühen Bruce Springsteen alles drauf. Damit entwickelte und verfeinerte Strummer die Fertigkeiten, die später The Clash zur außergewöhnlichsten Live-Band ihrer Generation machen sollten.
Die 101ers waren außerdem die Hausbesetzer-Band schlechthin. Keine Veranstaltung für die Rechte der Hausbesetzer in West-London ohne ihren Auftritt. Die Band nannte sich nach der Hausnummer ihres Wohnblocks. Strummer lebte sein Leben so wie er es in seinen Texten beschrieb. Seine politischen Ansichten waren eine Mischung aus wirrem linken Radikalismus, Sympathie für die Arbeiterklasse und die Unterdrückten, Feindschaft gegenüber Rassismus und Unterstützung von dem, was er als revolutionären politischen Kampf ansah, ganz gleich ob dieser vom marxistischen Sozialismus, Anarchismus oder von nationalen Befreiungsbewegungen angeführt wurde.
Mehr als Aggressivität und provokative Haltung
Seine musikalische Entwicklung änderte sich grundlegend in der Nacht, in der die Sex Pistols gemeinsam mit den 101ers auftraten.
"Es traf mich wie eine Atombombe."
Joe Strummer
Das sagte er später über die Begegnung. Auch Mick Jones und Paul Simonon waren im Publikum und nahmen ein paar Tage später ihren Mut zusammen, um Joe Strummer anzusprechen:
"Wir finden dich klasse aber deine Band ist alter Mist."
Mick Jones
So erinnerte sich Mick Jones in einem New Musical Express Interview an seine erste, direkte Begegnung mit Joe Strummer.
Joe Strummer ging in seiner Haltung über die Aggressivität und provokative Haltung der Sex Pistols hinaus.
Mick Jones hatte sich bereits mit seiner Band "London SS" einen Namen in West London gemacht, bevor er mit Paul Simonon in einem besetzten Haus eine neue Band zusammenstellte. Es fehlte nur noch der Frontmann: Joe Strummer! Der verließ die 101ers und stieg bei The CLASH ein. Er übernahm die Aggressivität und die provokative Haltung der Sex Pistols und verwandelte sie in etwas, das weit darüber hinausging. Während die Sex Pistols die hohe Jugendarbeitslosigkeit, die scheinbar zementierte Klassengesellschaft und den Niedergang Britanniens mit nihilistischem Sarkasmus und bitterem Humor kommentierten: "There's no future in England's dreaming" und "God Save The Queen", schrieben Joe Strummer und sein Partner Mick Jones Musik, als gelte es, zu den Waffen zu greifen und die Zustände zu ändern. The Clash gaben sich den Anstrich, revolutionär zu sein, zumindest in ihren Songs. In einem Interview mit dem New Musical Express erklärte Strummer:
"Ich glaube, die Leute sollten wissen, dass wir gegen Faschismus, gegen Gewalt, gegen Rassismus und für Kreativität sind."
Joe Strummer
The Clash kombinierten schnellen Rhythm and Blues, von dem sie die Patina abschabten, mit den musikalischen Einflüssen die vor ihrer Haustür lagen. Der Clash-Sound war von Beginn an kosmopolitisch und hatte seine Wurzeln in ihrer Wohngegend in West-London. Joe Strummer nannte ihn den "Sound des Westway", in Anspielung auf die Hauptverkehrsader des Viertels. Im Stadtteil Notting Hill lebten viele afro-karibische Einwanderer und feierten einmal im Jahr ihren Karneval.
Straßenschlachten auf den Albumcovern
"Police and Thieves" war 1976 ein Reggae-Klassikers von Junior Murvin, produziertvon Lee Perry, der Reggae-Hit des Jahres und zugleich die Hymne des Notting Hill Karnevals. Als die Londoner Polizei den Sound-Systrems, den mobilen Reggae-Discos, den Strom abdrehen wollten, kam es zu Straßenschlachten zwischen den afro-karibischen Einwandererkids, Punks und der Polizei. Für viele jamaikanisch-stämmige Jugendliche war es ein willkommener Anlass, mal Dampf abzulassen und sich für die rassistischen Schikanen zu revanchieren.
The Clash nahmen Fotos dieser Straßenschlachten und montierten sie auf die Cover ihres Debüt-Albums und auf die Reggae-geprägte Compilation "Black Market Clash". Mit drauf: Joe Strummers Freund , der jamaikanisch-stämmige Chronist der Punkbewegung: Don Letts. Er drehte alle Videos für The Clash.
Auf dem zweiten The Clash Album "Give Them Enough Rope" war der ursprünglichen Schlagzeuger Terry Chimes nicht mehr zu finden. Er war schon nach dem Debüt durch Topper Headon ersetzt worden. Ein brillanter Drummer, der mit Jazz genauso vertraut war wie mit Dub-Reggae. Joe Strummer pries den Beitrag Headons zum Clash-Sound über alle Maßen. Mit Headon waren The Clash in der Lage, ihre musikalischen Visionen umzusetzen. Die politische und soziale Empörung wurde auf "Give Them Enough Rope" zunehmend verquaster, die Musik für den US-Markt abgeschliffen. So schrieb der englische Journalist Tony Parsons damals in der Musikzeitschrift "Sounds":
"Bei schlechtem Wetter findet der Aufstand im Studio statt."
Journalist Tony Parsons
Und die Punks witterten ob des Major-Plattenvertrags von The Clash sowieso an allen Ecken und Enden Verrat und Ausverkauf: "CBS Promotion-Cash, no Revolution!" Und "Punk is dead" skandierten Hamburger Hardcore-Punks bei einem legendären Auftritt der Clash in der Hamburger Markthalle 1980. Da hatten The Clash bereits ihr epochales Doppel-Album "LONDON CALLING" veröffentlicht.
London Calling taucht regelmäßig auf den Listen der größten Alben aller Zeiten auf. Darauf versammeln sich Rockabilly, Ska, Reggae und Soul in Songs, die so unterschiedliche Themen behandeln wie den Spanischen Bürgerkrieg, Konsumterror und die drohende Apokalypse. Auf dem Dreifach-Album "Sandinista" loteten The Clash ihre musikalischen Grenzen so weit und tief wie nie zuvor aus. R’n’B, Rap, Dub-Reggae, Jazz und Funk-Elemente sind auf "Sandinista" vertreten. Auf dem Album befinden sich Lieder gegen einen US-Einmarsch in Nicaragua und Kuba ebenso wie Songs mit eher persönlichen Ansichten über das Leben und die Liebe. Und auch in dem Semi-dokumentarischen Film "Rude Boy" sympathisierte und kokettierte Joe Strummer mit der RAF und den Brigate Rosse.
"Natürlich fehlte mir anfangs ein profundes politisches Wissen. Ich nahm einfach die Parolen und Slogans die auf der Straße lagen und montierte sie in unsere Songs, eine Prise Marx und Engels kann nie schaden."
Joe Strummer im Interview mit einem kanadischen Radiosender
Dennoch war das holzschnittartige Auf-den-Punkt-Bringen in dreieinhalb Minuten die große Stärke von Joe Strummer.
"Er war einer der besten Texter seiner Zeit", so Mick Jones, und Schlagzeuger Topper Headon erinnerte sich an den Entstehungsprozess von "Rock The Casbah":
"Ich war allein im Studio und hatte die Musik schon fertig und eingespielt. Der Rest der Band kam, hörte sich das an, fand's großartig, Joe ging aufs Klo, kam nach 15 Minuten wieder raus und hatte den Text fertig, dann haben wir‘s aufgenommen."
Mick Jones
Mit "Rock The Casbah" vom Album "Combat Rock" 1982 gelang den Clash auch der Durchbruch in den USA, und sie spielten vor ausverkauften Hallen und in Stadien. Doch in dieser Zeit zeigten sich erste Risse innerhalb der Band. Topper Headons Heroin-Abhängigkeit geriet außer Kontrolle, und Terry Chimes wurde zurückgeholt. Zwischen Joe Strummer und Mick Jones flogen die Fetzen. Mick Jones kapselte sich immer mehr von der Band ab, und Joe Strummer wurde hinter der Bühne wegen seiner Ausbrüche "Der große Stromboli" genannt. Schließlich warf Strummer Jones raus, und die Band zerbrach. Joe Strummer und Paul Simonon machten als The Clash weiter, aber über deren 84er Album "Cut The Crap" schweigen wir lieber. Live vermochten sie dagegen immer noch mitzureißen und spielten u.a. Benefit-Shows gegen die Zerschlagung der Bergarbeitergewerkschaft in Großbritannien durch die Thatcher-Regierung. Mick Jones gründete die höchst innovative und anfänglich auch erfolgreichere Band Big Audio Dynamite.
Joe Strummer gestaltetein den Soundtrack für den C-Klassen Spaghetti-Western "Straight to Hell" von Alex Cox, indem er an der Seite der Pogues und Elvis Costello mitspielte. Danach sprang er bei den Pogues als Sänger ein, als diese Shane McGowan gefeuert hatten. Als Filmschauspieler überzeugte Joe Strummer hingegen in Jim Jarmuschs Film Mystery Train.
Doch zürück zu den Wurzeln – dahin war Joe Strummer mit seinen Mescaleros in den 90ern unterwegs. Als er einmal gefragt wurde, was die Mescaleros denn in dem Song Bhindi Bhagee spielt, antwortete er:
"Es hat ein wenig von Ragga Bhangra, Two-Step Tango, Mini-Cab-Radio, Music on the go! Surfbeat, Backbeat, Frontbeat, Backseat. Es wird von einem Haufen Musiker gespielt und sie lassen sich wirklich gehen!"
Joe Strummer
Genau das oder so ähnlich waren Joe Strummer &The Mescaleros.
Die Veröffentlichuing seines zweiten Albums mit den Mescaleros erlebte Joe Strummer nicht mehr. Er starb am 22. Dezember 2002 nach einer ausgedehnten Tour mit seinen Mescaleros. Das Album "Streetcore" erschien posthum. Es ist typisch für Joe Strummer, dass er sich während der letzten Mescaleros-Tour die Zeit genommen hat, um ein Benefiz-Konzert für die streikenden Feuerwehrleute in seinem geliebten West-London zu geben. Dies war sein letzter Auftritt in London, auf dem er darüber hinaus gemeinsam mit Mick Jones auf der Bühne stand - zum ersten Mal seit dem Auseinanderbrechen der beiden Clash-Motoren. Die beiden Töchter von Joe Strummer, Jazz und Lola, glauben übrigens, dass The Clash wieder zusammengefunden hätten. Erste Anzeichen gab es, obwohl Joe Strummer die Wahnsinnssummen für eine Reunion als "obszön" und "Verrat an der Clash.-Idee" zurückwies. Jedenfalls gab es zum 60.Geburtstag von Joe Strummer einen "Strummer of Love", ein One-day-off-festival mit Mick Jones, den Pogues, Billy Bragg und Alabama 3. Organisiert hatten das Joe Strummers musikalische Töchter. Das musikalische Vermächtnis von Joe Strummer wird also gehegt und gepflegt.