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Tocotronic Wie wir leben wollen - seit 20 Jahren

Tocotronic feiern ihr 20jähriges Bestehen. „Wie wir leben wollen“ heißt das 2013er Album. Auch wenn sie heute nicht mehr nach Rumpelpunk und Schrammelpop klingen. Das Statement bleibt: Tocotronic sind da, um sich zu beschweren.

Von: Matthias Hacker

Stand: 22.02.2013 | Archiv

Tocotronic 2013: Der Sound klingt anders - catchy Melodiebögen, keine schrägen Akkorde, kein rotzig lethargischer Gesang mehr wie früher. Sie klingen nicht mehr wie eine zerrissene Cordhose der 90er, sondern eher wie eine maßangefertigte Jeans im Vintagelook. Die sturen, zornigen Jahre sind vorüber. Warum sie ihr Album „Wie wir leben wollen“ genannt habe, erklärt Sänger Dirk von Lowtzow im Zündfunk- Interview:

Albumcover "Wie wir leben wollen" von Tocotronic

"Weil es natürlich schon eine wahnsinnig wichtige Frage ist, in dieser ganzen Scheiße die einen umgibt, wo permanent das eigene Leben versucht wird anzuzapfen. Wo das ja auch die Ressource ist, auf die alle rekurrieren und trotzdem will man ja auch leben und auch bis zu einem bestimmten Grad selbstbestimmt ohne jetzt in so einen Selbstverwirklichungsmodus zu verfallen. Das ist ja auch der Kern der neoliberalen Ideologie, dass man sich permanent selbst verwirklichen muss und kreativ sein muss: Deswegen ist es ja als Künstler auch so eine schreckliche Position, weil man als Künstler sozusagen die Blaupause bildet für das was heute jeder arme Angestellte sein muss. Der muss sich ja auch jederzeit neu erfinden."

Dirk von Lowtzow 2013

Als Blaupause für Kreativität und Veränderung sind Tocotronic ein Vorbild. Über 20 Jahre haben sie sich immer neu erfunden. Nach vier Coming Of Age-Platten, die damals schon etwas waren als die Chronik einer Jugend. Dann der Stilbruch 2002: Das weiße Album. Danach die Berlin-Trilogie, bei der Dirk von Lowtzow vor allem den Dichterfürsten gibt. Und jetzt: Aufnahmen mit einem veralteten Vierspur-Tonbandgerät. Sie verlangen von ihren Fans wiedermal Toleranz. Immer noch klingen das Pathos und die assoziative Kunstsprache von „Schall und Wahn“ nach. Und jetzt muss man sich schon wieder auf neue Tocotronic einstellen. Auf jeden Fall wissen Tocotronic, dass bereits neue Tocos in den Kellern und den Startlöchern stehen.

KOOK Wir kommen um uns zu beschweren Digital ist besser | Bild: Universal / L'age D'or

Auch wenn die Jugendbewegung längst vorbei ist – wenn sie denn überhaupt jemals da war. Der Slogan mit dem „Teil einer Jugendbewegung“ klingt 2013 schon ordentlich ausgeleiert und abgestumpft. 1995 auf dem Debüt „Digital ist besser“ schrien Sänger Dirk von Lowtzow und seine Bandkollegen Arne Zank und Jan Müller noch, dass sie Teil einer Jugendbewegung sein möchten.

"Aus dem Grunde dieser Sehnsucht ist das auch geschrieben, ich empfinde mich eben überhaupt nicht als Teil einer Jugendbewegung. Schon gar nicht, aus dem kleinstädtischen Milieu, wo ich herkomme aus Offenburg, wo es das einfach nicht gab. Das ist so die persönliche Seite des Stückes."

Dirk von Lowtzow 1995

Damals noch als Newcomer eingeladen, findet sich heute kein Musikmagazin mehr, dass es sich leistet, Tocotronic nicht auf die Titelseite zu nehmen. Die Fans sind mitgewachsen und heute eine solvente Käuferschicht. Zum anderen gibt es einfach wenige Bands in Deutschland, die immer so interessant geblieben sind und Angriffsflächen geboten haben.

Auch mich hatte Dirk von Lowtzow in den 90ern voll abgeholt. Er aus Offenburg an der französischen Grenze bei Freiburg, ich im tschechischen Grenzgebiet Bayerns. Die einzige Jugendbewegung – wenn es die überhaupt im Umkreis von 50 km gab –, war wohl die katholische Landjugend. Aber die hatte halt nicht das Identifikationspotential wie Tocotronic mit ihren Trainingsjacken, Cordhosen und Seitenscheitel.

Wenn die Jugendbewegung es nicht zu einem selbst schaffte, dann holte man sie sich halt nach Hause in den CD-Player. Dort liefen bisher nur Nirvana und Dinosaur Jr.-Platten. Und dann kommt der „große Bruder“ Dirk und wischt die Grunge-Nostalgie einfach mal so weg. Er singt: „Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk“. Das war damals die nüchterne Message an „alle Dirks“. Dann kam es Schlag auf Schlag. In zweieinhalb Jahren – vier Platten. Ganz in Ramones-Tradition. Ein paar Gitarrengriffe – provokante - kritische Slogans. Aber immer mit einer selbstsicheren Introvertiertheit und der Haltung eines Einzelkämpfers. So was ist natürlich gefällig für Jugendliche, die zuhause – eingesperrt im Zimmer - vor dem Spiegel stehen, Luftgitarren halten und bei voller Lautstärke „Die Welt kann mich nicht mehr verstehen“ plärren.

Der Weg war bereitet für die Wohnzimmerrevolten in Deutschland. Ganz nach dem Tocotronic-Titel: „Jungs hier kommt der Masterplan“. Während die Tocos ihrer Aussage nach noch die ABC-Schützen der Hamburger Schule waren, standen Blumfeld 1996 längst in der Oberstufe.

Wir kommen um uns zu beschweren | Bild: L'age D'or

Schon 1994 setzten sie mit „L‘Etat et moi“ einen Standard für deutschsprachigen Independent-Pop, der bis heute gilt. Im Zentrum der „Sonnengott“ Jochen Distelmeyer. Aber Blumfeld waren runder – klanglich und musikalisch ganzheitlich. Mit Tocotronic konnte man sich damals noch abgrenzen. Der antiautoritäre Trotz gegenüber der Welt in Songs wie „Ich werde mich nie verändern“ oder „Alles was ich will ist nichts mit euch zu tun haben“ zieht Ende der 90ziger immer mehr Leute auf die Seite von Tocotronic. Nur konsequent, dass sie dann auch den Viva-Preis in der Kategorie „Jung, deutsch und auf dem Weg nach oben“ ablehnen.

Freunde haben mir erzählt, dass sie sich zur Platte „Es ist egal, aber“ immer zum gemeinsamen Hören getroffen haben. Da wurde die Trainingsjacke eingepackt, die zerschundenen Chucks geschnürt und los ging‘s zum Tocotronic-Sitzkreis. Das ganze Album wurde mitgesungen. Geredet wurde nicht. Tocotronic hatten ja alles viel besser und knackiger formuliert. Für die Die-Hard Fans ist es aber dann mit ihren Tocos bald vorbei. 1999 erscheint das Album "K.O.O.K." Der erste Stilbruch – die erste Untreue zum kruden „Dagegen“. Die Riot-Boys werden zahmer und Dirk von Lotzow singt im Titelsong zum ersten Mal Englisch. Der Stilbruch wäre aber auch schon viel früher gekommen, wie Dirk von Lotzow kürzlich im Interview erzählt:

"Man muss sich so ein bisschen klarmachen, dass die ersten vier Alben eigentlich innerhalb von zwei oder zweieinhalb Jahren erschienen sind bis zur Egal Aber. Und es ging alles sehr schnell, dass man etwas bekannter wurde und aus so einem ganz kleinen Insiderstatus, den wir am Anfang noch hatten zu einem größeren Publikum gefunden haben. Und gleichzeitig fand eben schon eine gewisse Vereinnahmung von uns statt. Also von dem Style, den wir uns damals halt so ausgedacht haben. Trainingsjacken und Cordhosen und diesen komischen Bryan Ferry-Seitenscheitel. Das war auch so eine megabekloppte Popperuniform. Und das sollte ja auch so sein. Das sollte ja bekloppt sein – parodistisch. Aber von Leuten wurde das dann so eins zu eins wahrgenommen. Und so war es aber nie gemeint in dem Sinne. Und so hatten wir dann zwischen 1997 und 1999 als dann KOOK erschienen ist, das erste Mal dass wir so ein bisschen reüssiert und innegehalten haben und geschaut haben, was war jetzt gut, was war schlecht, was muss man ändern. Und da kam dann dieser Stilbruch zustande."

Dirk von Lowtzow 2013


Und der Stilbruch kommt nicht etwa schleichend – sondern in Form eines Remix-Albums von K.O.O.K. Die Variationen. Darauf reihen sich die Namen von bekannten Produzenten: Justus Köhncke, Erobique und Thies Mynther und der wunderbare Turner samplen die Gitarrenmelodien. Vor allem ein Track ist besonders herauszuheben: "Freiburg". Der Bash gegen alle Fahrradfahrer der Stadt – gegen all die bewusst lebenden Besser-Wisser und Besser-Leber ist nämlich einer am besten umgesetzten Remixe auf diesem Pionierprojekt. Hinter den Reglern:  Weilheims Elektrofrickler Nummer 1 – Console. Und die Vocoder-Stimme zirpt nur so in Ohr: „I don't know why I hate you so much, bicycle riders in this town“.

Aus heutiger Sicht ein alter Hut – ein Remixsampler einer Indie-Gitarrenband. Heute gehört das zum guten Ruf. Was in "K.O.O.K." und den Variationen ganz offensichtlich anklang, endete mit dem weißen Album als Neuanfang. Dirk von Lowtzow konnte auf einmal singen, die alte Ramones-Nirvana-Strategie mit drei Akkorden hatte ausgedient. Die Songs breiten sich nun aus und bekommen Atmosphäre. Auf einmal wollen die Tocos nicht mehr unsere Jugendhelden sein. Sie legen den Wasted Youth-Style ab.

Aus Parolen wird Poesie. Viele Fans wenden sich deswegen ab. Zuviel Romantik, zu viel Märchenwelt. Ramones und Grunge sind nicht mehr zu hören, stattdessen geht die Referenzmeierei erst richtig los. Die Beatles-Anspielung mit dem „weißen Album“ ist offensichtlich, aber auch musikalisch schwirren Bowie und Roxy Music durch den Raum. Nach einem Auftritt in der BBC-Sendung Top Of The Pops ist es dann auch wirklich mit dem Thema Insider-Band vorbei. Und auf einmal will jeder Boy und jedes Girl – Tocotronic sein.

2002 fällt der endgültige Startschuss für eine Indietronic-Welle auch in Deutschland: Notwists „Neon Golden“, „A Pack Of Lies“ von Turner und das weiße Tocotronic -Album. Auf den ersten Platten muss man suchen, um einen Track über drei Minuten zu finden. Auf dem weißen Album ist plötzlich kein Song mehr kürzer als vier Minuten. Aber jeder Song hält die Spannung und das Niveau.

Schon länger begleitete Rick Mc Phail das Trio auf Tour. Ab 2005 stößt er dann als vollwertiges Mitglied zur Band. Zusammen mit Rick McPhail gehen Tocotronic dann auch nach Berlin, um dort mit dem Produzenten Moses Schneider zusammenzuarbeiten. Es ist der Beginn einer weiteren großen Schaffensphase. Der sogenannten Berlin-Trilogie. "Pure Vernunft darf niemals siegen" ist der Startschuss für Pathos und Inferno. Der Song „Aber hier leben, nein danke“ bezieht sich beispielsweise auch auf die Mitte der Nullerjahre aufflackernde Debatte um ein deutsches Popbewusstsein und Radioquoten für deutschsprachige Songs.

Deutschtümeleien waren schon immer Hauptangriffspunkt von Tocotronic. Und sie verweigern sich weiter. Auch noch als sie beim Majorlabel Universal unter Vertrag genommen werden. Trotz dieses Deals ist die Single aus dem Album offensiver denn je. Mit der Single „Sag alles ab“ stellen sich Tocotronic wieder einmal quer  zur Mitmachgesellschaft. Das 2013er Album heißt nun „Wie wir leben wollen“. Was interessant ist, weil die Antihaltung auf einmal auch ein Ziel hat. Ob da nach 20 Jahren die Altersmilde durchschimmert?

"Nach 20 Jahren immer dagegen zu sein, immer gegen alles zu sein und unsere Widerständigkeit zu pflegen, hatten wir gedacht, es wär jetzt vielleicht mal an der Zeit zu sagen, was wir eigentlich wollen. Das sind wir den Leuten die uns hören, den Hörerinnen und Hörern auch mal schuldig, was wir eigentlich wollen. Und das hat uns irgendwie interessiert. Ich fand‘s eben interessant textlich eben mal einen anderen Weg zu gehen als die Schematik „Wir gegen sie oder wir gegen alle“ und eben eher so ne Art emanzipativen Gedanken zu folgen wie man sich selber befreien kann, auch von sich selbst."

Dirk von Lowtzow 2013

Wie diese Befreiung von sich selbst ausschauen kann und wie Tocotronic leben wollen, dazu haben sie 99 Thesen auf der bandeigenen Homepage aufgestellt. Darunter Antworten wie „Anders als die Anderen“, „Gefedert und Geteert“, „Steine werfend“, „Im Lied der Jugend“ oder auch „Beginnend mit der Häutung“. Tocotronic stehen also auch noch 2013 für Veränderung und die unaufhaltsame Flucht nach vorn. Es ist eine Band, die man im Längsschnitt ansehen muss. Einzelne Phasen herauszupicken, kürzt nur ab. Blumfeld haben sich längst aufgelöst, Tocotronic leben noch. Und bei ihnen sieht man, wie es wohl gewesen wäre, würde Kurt Cobain noch leben. Wie eine Band altert und was das für Überraschungen bereithält.


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