Arto Lindsay zum 60. Von No Wave bis Bossa Nova
Arto Lindsay ist ein Gitarrist, der eigentlich gar nicht Gitarre spielen kann; ein Sänger, dessen Stimme als dünn und wenig tragfähig beschrieben wird. Dennoch hat er es geschafft eine der einflussreichsten Figuren der New Yorker Szene zu werden.
Als 1992 der New Yorker Avantgarde-Club The Knitting Factory einen Abend mit Beatles-Songs veranstaltet, ist auch Arto Lindsay auf der Bühne, zusammen mit illustren Begleitern: Gitarrist Marc Ribot, Bassist Greg Cohn, Schlagzeuger Joey Baron, Sängerin Syd Straw. Sie spielen – oder besser: dekonstruieren - "Don’t Let Me Down". Dokumentiert ist dieser Auftritt auf der CD "Downtown Does the Beatles Live At The Knitting Factory".
1992 war Arto Lindsay längst ein respektiertes Mitglied der New Yorker Szene, hatte bei bekannten Bands gespielt, Aufnahmen mit Laurie Anderson oder dem einflussreichen Produzenten Kip Hanrahan gemacht und hatte sogar einen Vertrag mit einem Major Label. Das alles hätte wohl kaum jemand vermutet nach den Krach-Exerzitien, die er Ende der Siebziger mit seiner ersten Band D.N.A. veranstaltete - an Orten wie dem CBGB's oder dem MUDD Club. Was man in Berlin damals "geniale Dilettanten" nannte, hieß in New York schlicht No Wave – und ausgerechnet der Brite Brian Eno verschaffte der Bewegung mit der Compilation "No New York" erstmals eine internationale Plattform.
Wenn jemand seine Gitarre so dissonant und lärmig spielt wie Arto Lindsay, nennt man das in den USA "skronky". Der Rockkritiker Robert Christgau soll den Begriff das erste Mal gebraucht haben - eine deutsche Übersetzung für "skronky" gibt es nicht. In einem Interview hat Lindsay erzählt, dass er einen Monat vor seinem ersten Auftritt als Musiker das erste Mal ein Instrument in die Hand genommen hat. Seiner Wertschätzung unter Kollegen hat die völlige Abwesenheit konventioneller Spieltechnik nicht geschadet. Schon während seiner Zeit bei D.N.A. war Arto Lindsay einer weiteren Band beigetreten - den von den Brüdern John und Evan Lurie gegründeten Lounge Lizards. Die spielten eigentlich Jazz, aber dank Arto Lindsays Gitarre auch mit einem Touch No Wave.
The Golden Palominos
Die Lounge Lizards hätten beinahe "The Golden Palominos" geheißen, aber Arto Lindsay und Schlagzeuger Anton Fier verloren die bandinterne Abstimmung. Der Name "Golden Palominos" wurde dann aber gleich für das nächste Projekt der beiden recycelt, eine Art Supergroup der New Yorker Avantgarde. Gründungsmitglieder waren neben Lindsay und Fier der Free-Jazz-Saxophonist John Zorn, Bassist und Produzent Bill Laswell und der britische Gitarrist und Geiger Fred Frith. Musikalisch wollte man schweren, hiphop-beeinflusstem Funk mit freier Improvisation verbinden. Arto Lindsay steuerte dazu abstrakte Texte bei, inzwischen mehr gesungen als geschrien.
Genau wie bei den Lounge Lizards stieg Arto Lindsay auch bei den Golden Palominos bald wieder aus. Beim zweiten Album war er nur noch als Gast dabei. Das nächste Projekt wartete schon, und diesmal war der endgültige kommerzielle Durchbruch angepeilt. Die Ambitious Lovers hatte Lindsay als "Mischung aus Samba und dem Soul von Al Green" angelegt, wie er in einem Interview behauptete. Mit Bossa Nova und Samba war er von Kindesbeinen an vertraut – Arto Lindsay ist zwar in den USA geboren, aber in Brasilien aufgewachsen, wo seine Eltern als Missionare unterwegs waren.
Auf dem ersten Ambitious Lovers-Album "Envy" erwies sich die Mischung aus brasilianischem Bossa und amerikanischem Funk, aus programmierten Beats und akustischen Instrumenten aber noch als schwierig. Jedes Stück klang anders, das Album war ein einziges Durcheinander, aber ein Song wie "Trouble Maker" ließ schon ahnen, wo die Reise mal hingehen sollte.
Sieben Alben zu den sieben Todsünden
Sieben Alben zu den sieben Todsünden wollte Arto Lindsay mit den Ambitious Lovers machen. Letztendlich wurden es aber nur drei. Vielleicht, weil er sich zwischendurch immer wieder gern in andere Projekte einbinden ließ. Für ein Hörspiel des Frankfurter Komponisten Heiner Goebbels und des Autors Heiner Müller kam er extra nach Deutschland. "Der Mann im Fahrstuhl" handelt von Traum eines Menschen, mit dem Fahrstuhl nie anzukommen, obwohl er sich fest vorgenommen hat, zum Termin mit dem Chef auf jeden Fall fünf Minuten zu früh einzutreffen.
"Der Mann im Fahrstuhl" erschien 1988 beim Münchner ECM-Label. Es blieb das einzige Mal, das Arto Lindsay auf einer ECM-Produktion zu hören war. Mit dem aus der Schweiz stammenden Keyboarder Peter Scherer hatte er mittlerweile weiter an Songs für die Ambitous Lovers gefeilt. Peter Scherer war der Musiker des Duos: Studiert hatte er bei György Ligeti und Terry Riley, danach mit David Byrne und Laurie Anderson gespielt.
In Arto Lindsays Texten gab es jetzt zum ersten Mal Strophen und Refrains. Ins Studio wurden prominente Musiker eingeladen – der brasilianische Perkussionist Naná Vasconcelos zum Beispiel oder der damals gerade mit der Band Living Colour bekannt gewordene Gitarrist Vernon Reid. Es gab Singles und Maxi-Singles, viel Kritikerlob, sogar eine Europatournee. Es gab Songs wie "Copy me", die das Zeug zum Ohrwurm hatten, aber einen Hit gab es nicht.
Intellekt auf der Tanzfläche
"Greed", also Gier, hieß das zweite Album der Ambitious Lovers, das nach Meinung ihrer Plattenfirma "endlich auch Intellekt auf die Tanzflächen" bringen sollte. Die Produktion war entsprechend opulent, die Verkaufszahlen blieben dennoch mäßig. Arto Lindsay und sein "Partner in crime" Peter Scherer bekamen einen dritten Versuch. Nach "Neid" und "Gier" stand diesmal die "Lust" im Mittelpunkt einer Ambitious-Lovers-Produktion und die meisten Songs wurden in Richtung P-Funk und Disco gebürstet. Die Texte waren erotisch aufgeladen, als prominenten Gast hatte man diesmal passenderweise Chic-Gitarrist Nile Rodgers ins Studio gebeten. Aber vielleicht war der schmächtige Arto Lindsay mit den dicken Brillengläsern einfach nicht die Idealbesetzung als Dancefloor-Verführer.
Der Traum vom Popstar war für Arto Lindsay nach der dritten Produktion der Ambitious Lovers vorerst ad acta gelegt. Er besann sich auf seine alten Stärken und legte auf dem New Yorker Avantgarde-Label Knitting Factory Works ein Album seines Arto Lindsay Trios vor. "Aggregates 1–26" war eine Fortsetzung seiner ersten Band D.N.A., allerdings mit anderen musikalischen Mitteln. Schlagzeuger Dougie Bowne und Bassist Melvin Gibbs waren Profis der New Yorker Downtown-Szene. Die kurzen bis sehr kurzen Stücke waren weitgehend improvisiert, aber auf hohem Niveau, die Texte waren wie früher assoziativ und abstrakt. "Es ist ein Film" heißt es in dem Stück "Imbue": "Ein Film, in dem viele Sterben / werben oder beinahe / werben um einen Kuss / Ich umarme dich / eine Straße spiegelt sich / ich kann nichts berühren."
Das musikalische Chamäleon
Solche abstrakte Miniaturen sind aber nur die eine Seite dieses musikalischen Chamäleons. Die andere lebt Arto Lindsay auf seinen inzwischen sieben Solo-Alben aus. Da unterlegt er seine Songs mit elektronischen Rhythmen oder er widmet er sich brasilianischen Liedformen wie Bossa Nova und Samba. Seit er mit seinen Eltern 15 Jahre in Brasilien verbracht hat, spricht und schreibt Arto Lindsay fließend portugiesisch. Er hat als Produzent mit den bekanntesten brasilianischen Musikern gearbeitet, mit Caetano Veloso, Gal Costa, Carlinhos Brown und Marisa Monte. Und auch bei seinem Ambitious Lovers-Projekt waren häufig brasilianische Musiker an den Aufnahmen beteiligt.
Sein erstes, 1996 erschienenes Soloalbum war konsequent zweisprachig, sogar der Titel war portugiesisch und englisch: "O Corpo Sutil / The Subtle Body". Der Sound des Albums war von dem brasilianischen Gitarristen Vinicius Cantuária geprägt und mit einer wunderschön gesungenen Coverversion verbeugte sich Arto Lindsay vor Brasiliens Altmeister des Bossa Nova, vor Antônio Carlos Jobim. Am Klavier wurde er dabei von Japans Pop-Ikone Ryuichi Sakamoto begleitet.
Immerhin, die Japaner lieben ihn
Für seine Soloalben gilt wohl auch, was Arto Lindsay einst in einem Interview mit Blick auf die kommerziell gescheiterten Ambitious Lovers beklagt hat: "Sie sind zu sehr Pop für die esoterischen Musikliebhaber und zu verrückt für normale Popfans, zu brasilianisch für die Amerikaner und zu amerikanisch für die Brasilianer." Immerhin, die Japaner lieben ihn. Für Ryuichi Sakamoto hat er Songs geschrieben und mit dem weit weniger bekannten, aber genauso interessanten Jun Miyake hat er ein ganzes Bossa Nova-Album produziert. Jun Miyake ist ein japanischer Trompeter und Pianist, der unbedingt das Thema "Unschuld" mit der Form des Bossa Nova verbinden wollte. In Arto Lindsay fand er den idealen Partner, der Texte schrieb, Musiker vermittelte und natürlich Gitarre spielte und sang.
In den letzten Jahren ist Arto Lindsay etwas aus der Öffentlichkeit abgetaucht. Sein letztes Soloalbum hat er 2004 herausgebraucht, seine Website hat er 2005 das letzte Mal aktualisiert. Aber er tritt nach wie vor auf. 2010 war er zum Beispiel mit langjährigen Weggefährten in Deutschland beim Moers-Festival zu Gast und im Mai 2013 ist er in einem Club namens "Hidden Agenda" in Hongkong aufgetreten. Neueste Bilder zeigen ihn mit demselben Brillenmodell, dass er seit 35 Jahren trägt, aber inzwischen mit Bart. Und der steht ihm überraschend gut.
Am 28. Mai 2013 wurde Arto Lindsay sechzig – ein Musiker, für den Lärm und Pop, die freie Improvisation und die strenge Songform immer schon zwei Seiten ein und derselben Medaille waren.