20 Jahre ohne Harry Nilsson Zum Todestag eines massenkompatiblen Exzentrikers
Zu viele Lost Weekends? Zu viel Brandy? Am 15. Januar 1994 stirbt Harry Nilsson an Herzversagen, so heißt es. Er wird nur 52 Jahre alt - und vielleicht hat das Herz vor seinem Lebenswandel kapituliert.
Harry Nilsson gehört zu dieser besonderen Spezies von weißen, amerikanischen Popkünstlern, die in den frühen Vierzigern geboren sind, sich eine ausgeprägte Exzentrik gönnen, und dennoch den Massengeschmack treffen – zumindest hin und wieder. Randy Newman und Van Dyke Parks sind solche Typen, mit beiden hat Nilsson immer wieder zusammengearbeitet. Im Falle des 1941 in Brooklyn geborenen Harry Nilsson geht das Exzentrische gerne mal Hand in Hand mit dem Egozentrischen. Nilsson singt gerne über Nilsson und Nilsson zitiert gerne Nilsson. Seine Fähigkeit zu einer eleganten Selbstironie verhindert, dass diese Egotrips selbstgefällig daherkommen.
Gleich auf seinem zweiten Album erzählt Harry Nilsson eine Version seiner Lebensgeschichte, „1941“ heißt der Song. 1941 kommt er zur Welt. 1944, der kleine Harry ist gerade drei Jahre alt, haut der Vater von zu Hause ab. Mit 14 Jahren begegnet Harry einem Clown - der beeindruckt ihn so sehr, dass er sich selbst einem fahrenden Zirkus anschließt. Bald hat er in jeder Stadt ein Mädchen. Aber dann trifft er das eine, das ganz besondere Mädchen, von dem er schon immer geträumt hat. Mit ihr bekommt er einen Sohn, es ist das Jahr 1961. Die kleine Familie ist glücklich, aber, 1964, der kleine Sohn ist gerade mal drei Jahre alt, da haut Harry einfach von zu Hause ab, wie einst sein eigener Vater. Ein Jahr später sind Mutter und Sohn immer noch da, aber, damit endet der Song... Was passiert, wenn mal wieder der Zirkus durch die Stadt kommt? Mit dieser Frage endet der autobiografische Song, tatsächlich waren Nilssons schwedische Großeltern als Zirkusartisten aktiv und besonders geschätzt für ihr sogenanntes Luftballett – „Aerial Ballet“ ist denn auch der Titel seines Albums von 1968.
„1941“, der Song über sein Leben, sollte das weitere Leben des Harry Nilsson nachhaltig verändern. Der renommierte Autor Derek Taylor – so die Legende – hört „1941“ eines Tages im Radio und nimmt 1968 den Mund ziemlich voll:
"Nilsson ist der beste zeitgenössische Solokünstler der Welt! Er ist etwas anderes als die Beatles. HE IS THE ONE. That's it. Enough."
Derek Taylor
Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft
Auf der Stelle kauft Taylor 25 Exemplare des Albums „Pandemonium Shadow Show“ und verteilt sie an einflussreiche Freunde aus der Musikindustrie. Und an vier Musiker. Die heißen John, George, Paul und Ringo und das ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Seinen ersten kleinen Hit – eine Nummer zehn in Kanada – verdankt Nilsson den Beatles. Er heißt „You can't do that”, ist aber weit mehr als nur ein Cover des gleichnamigen Beatles-Songs. Nilsson schafft es in 2.16 Minuten sage und schreibe 22 weitere Beatles-Songs unterzubringen. Auf demselben Album „Pandemonium Shadow Show“ covert Nilsson auch den Beatles-Song „She's leaving home“, die Geschichte einer jugendlichen Ausreißerin. Wir erinnern uns, Harry war vierzehn, als er von zu Hause wegging, um sich dem Zirkus anzuschließen.
1969 wird der Song „Everybody's talking“ in dem Film „Midnight Cowboy“ verwendet und Hollywood bringt den entscheidenden Schub. Nilsson feiert seinen ersten Top Ten-Hit und bekommt einen Grammy. 1971, inzwischen ist er dreißig, kommt dann der größte kommerzielle Erfolg mit dem Album „Nilsson Schmilsson“. Auf dem Cover in schwarzweiß ein etwas verhuschter Harry Nilsson, ungekämmt mit glasigen Augen, steht im Bademantel in der Küche.
Nilsson Schmilsson
„Nilsson Schmilsson“: Das Alter Ego Schmilsson ist ein Nilsson-typischer, selbstironischer Verweis auf den schmaltzy Charakter von einigen Songs. Mit dem schmaltzyesten aller schmaltzy Songs landet Nilsson schließlich einen Welthit. Der Schmachtfetzen “Without you” toppt in vielen Ländern die Charts, dazu gibt's einen weiteren Grammy. 1994, wenige Wochen nach Nilssons frühem Tod, treibt Mariah Carey das Klagelied in schwindelerregende Höhen und landet einen der größten Hits ihrer Karriere.
Bei „Without you“ kommt wieder die Beatles-Connection ins Spiel. Der Song stammt von der englischen Band Badfinger. Badfinger waren eine ziemlich unglückliche Band auf Apple Records, der Firma der Beatles. So eine Art düsteres Double der Beatles, zwei der Bandmitglieder sollten sich schon bald das Leben nehmen. „Everybody's talking“ und „Without you“ - die beiden größten Hits von Nilsson haben andere geschrieben. Nilsson ist ein begnadeter Interpret, Balladen bevorzugt. Aber er kann auch selber schreiben und er kann auch Rock'n'Roll. Das beweist er mit Songs wie “Jump into the fire”, ein weiterer Hit aus dem Album “Nilsson Schmilsson” von 1972.
"One is the loneliest number"
Nilssons langlebigste Eigenkomposition ist der Song „One“, „ein klassischer Trennungsschmerzsong im Gewand einer mathematischen Reflexion.“ So beschreibt der Kritiker Jens Balzer diesen ziemlich einzigartigen Song des wunderbaren Harry Nilsson. Im Text heißt es:
"Eins ist die einsamste Nummer. Eins ist nur eins. Eins kann man nicht teilen. Auch die Zwei kann eine sehr einsame Nummer sein. Zwei ist die einsamste Nummer, abgesehen von der Eins. Seit du gingst, ist mein Leben entzwei."
aus Harry Nilsson: 'One'
Noch mal Jens Balzer: „Nilsson selbst hat das Lied im gedämpften, gleichwohl barock ausgeschmückten Orchestersound der Epoche interpretiert, um in den letzten Takten in ein befremdliches Winseln zu fallen.“ Man könnte es auch ein betörendes Winseln nennen... Jedenfalls floppt Nilssons „One“, als es 1968 als Single erscheint. Ein Jahr später aber landet die Band Three Dog Night mit einer Hardrock-Version einen Hit. Dass der Song Filmqualitäten hat, das fällt 1998 den Machern von „Akte X“ auf, eine zu Recht vergessene Band namens Filter testet „One“ auf seine Crossover-Qualitäten, das Resultat ist eher scheußlich.
Mit einer weiteren Version rührt Aimee Mann nicht wenige Kinobesucher zu Tränen: „One“, das Lied von der einsamsten Nummer, ist das musikalische Leitmotiv von „Magnolia“, dem gefeierten Spielfilm des amerikanischen Regisseurs Paul Thomas Anderson aus dem Jahr 1999. In den Nuller Jahren macht sich Blixa Bargeld mit seinem Welteinsturzbass über „One“ her, die britische Beta Band sampelt Nilssons Original zu einer kleinen psychedelischen HipHop-Oper unter dem Titel „Won“, also „Gewonnen“.
„Aerial Pandemonium Ballet“
Auch im Repertoire des Harry Nilsson führt „One“ ein ganz eigenes Leben. So zum Beispiel als „Mr. Richard's Favourite Song“ auf dem Album „Aerial Pandemonium Ballet“. Das ist 1971 ein ganz besonderes Album, gewissermaßen Harry Nilssons Einstieg in die Historisierung seiner selbst. Oder auch: Der Beginn der Postmoderne im Schaffen des wunderlichen Mr. Nilsson. Vielleicht liegt es daran, dass er in diesem Jahr 1971 30 Jahre alt wird, damals ja ein bedeutender Wendepunkt im Leben. Jedenfalls ist dieses „Aerial Pandemonium Ballet” eine Sammlung von neuaufgenommenen und zum Teil geremixten Songs aus den Alben „Pandemonium Shadow Show“ und „Aerial Ballet“. Ein Blick zurück aufs eigene Leben, und das mit gerade mal dreißig. Da darf die einsame Nummer Eins natürlich nicht fehlen, die ist schließlich „Mr.Richland's Favourite Song“.
Lost Weekends
Da ist sie wieder, die selbstironische Ex- und Egozentrik des Harry Nilsson. Der Gipfel der selbstverliebten Egozentrik ist nach Meinung vieler Kritiker das Album „Pussy Cats“ von 1974. „Pussy Cats“ ist gewissermaßen das Resultat des Lost Weekends. Das verlorene Wochenende. Als Lost Weekend geht eine gemeinsame Sauf-Drogen & Sex-Tour von Harry Nilsson und John Lennon in die Geschichte ein. Das verlorene Wochenende zieht sich 1974 über viele Monate. Hauptnahrungsmittel der Brüder im Geiste sind Brandy, Koks und Cognac. Das Lost Weekend hinterlässt eine Spur der Zerstörung. Dass sich Harry Nilsson seine Stimme ruiniert hat, gehört eher zu den Kollateralschäden. Das Lost Weekend hinterlässt allerdings auch ein interessantes künstlerisches Dokument. Das Album „Pussy Cats“ von 1974, auf dem Cover posieren Nilsson und Lennon als Puppen.
Die meisten Kritiker sehen in diesem Album nicht mehr als ein paar gesammelte Dummheiten von nicht mehr so ganz kleinen Jungen, die sich weigern, erwachsen zu werden. Das mag so sein, aber als Denkmal dieser Freundschaft ist es eine rührend schöne Platte. Mit dem, was nach dem Lost Weekend von ihren Stimmen noch übrig ist, schaukeln die beiden durch ein Dutzend Evergreens, da bleibt kein Auge trocken. Zu Lebzeiten gilt „Pussy Cats“ als peinlicher Fehltritt, posthum wird es allmählich rehabilitiert. 2006 nehmen die Walkmen das komplette Album „Pussy Cats“ auf - eine verdienstvolle amerikanische Band, auch über diese Hommage hinaus. Was wohl Harry Nilsson von diesem sehr speziellen Nachruhm gehalten hätte?