The Smiths Bigmouth strikes again
Der NME würdigte The Smiths 2004 noch vor den Beatles als "Most Influential Artist Ever." Legionen von Britpop-Bands studierten und studieren ihre Songs. Gerade rockt Sänger Morrissey die Bestsellerlisten mit seiner Autobiografie.

Ein Takt reicht, nur ein bisschen die Gitarre von Johnny Marr hören und dazu eine Koloratur der einzigartigen Stimme von Morrissey, und sofort ist klar: Das sind The Smiths. Sie waren DIE britische Indierock-Band der 80er Jahre. Obwohl The Smiths aus Manchester nur in Großbritannien wirklich erfolgreich waren, strahlt ihre Wirkung bis heute in die weite Popwelt hinaus. Das liegt vor allem an dem außergewöhnlichen Songschreiber-Duo Johnny Marr und Steven Patrick Morrissey. Johnny Marr, den viele Musiker, Musikmagazine und Produzenten als "Gitarren-Genie" verehren, wurde am 31. Oktober 2013 50 Jahre alt. Der vier Jahre ältere, ewige Dandy Morrissey rockte nach Erscheinen seiner höchst vergnüglichen und literarisch wertvollen "Autobiography" die britischen Bestsellerlisten und stürmte auf Platz eins bei Amazon.
"Hand in Glove” war die Debütsingle von The Smiths im Mai 1983. Aber obwohl BBC-Radio One-DJ-Legende John Peel die Single häufig spielte, schaffte "Hand in Glove" nicht die Top-100 in den UK-Charts. Vielleicht lag es daran, dass es mit The Smiths plötzlich wirklich etwas Neues zu hören gab. Dass die Musik anfangs zu komplex und intelligent für die Massen war, mit Hörgewohnheiten brach, und dass die Band als spannendes, kontroverses Phänomen 1983 von der englischen Musikpresse noch nicht vollständig wahrgenommen wurde. Das sollte sich bald ändern.
Schon auf den ersten Singles wie zum Beispiel "This Charming Man" zeigte sich die enorme Qualität der Band. Die musikalische wie lyrische Vielschichtigkeit, gepaart mit der exaltierten, ausdrucksstarken Stimme Morrisseys. Allerdings war dabei nie klar, wer da gerade selbstironisch und mitunter spöttisch zu einem sang. Morrissey selbst oder einer von vielen, von ihm verehrten, literarischen Charakteren. Oscar Wilde-Figuren schwirren ständig durch Smiths-Songs, die voll beißender Ironie, Sarkasmus und politischer wie sexuell mehrdeutiger Anspielungen sind. Dazu eine latent, trotzig zur Schau gestellte Melancholie und Deprimiertheit, die das Lebensgefühl von zigtausend schüchternen Teenagern traf. Im Gegensatz dazu das fröhliche, komplexe Gitarrenspiel des eher ruhigen Johnny Marr, der die düstere Post-Punk-Ära Englands mit seinen Melodien und Harmonien aufmischte.
Musikalisch hatten Marr und Morrissey gegensätzliche Meinungen, aber genau diese Unterschiede befeuerten die Songs von The Smiths, machen das Faszinosum aus und erklären den Erfolg. Auch die Ikonographie der Cover und Plakate spielte eine entscheidende Rolle. Meist waren es Morrisseys Helden aus den Bereichen Film, Musik, Literatur und Alltagskultur, die für die Artwork der Smiths ausgesucht wurden. Elvis, Jean Marais, Joe Dalle Sandro oder Candy Darling zum Beispiel.
In "Suffer Little Children” verarbeitete Morrissey die Geschichte der Serienmörder Myra Hindley und Ian Brady, die in den 60er Jahren in Manchester Kinder missbrauchten und ermordeten. Durch die Anzeige eines gewissen David Smith wurden die beiden überführt. Ob sich The Smiths nach diesem David Smith benannt haben? Es ist jedenfalls eine von unzähligen Deutungen. Morrissey klärt die Namensfindung der Band auch nicht in seiner Autobiographie. Von 457 Seiten nehmen The Smiths gerade mal 70 ein.
"Meat Is Murder"

Bereits mit elf Jahren wird Steven Patrick Morrissey Vegetarier und engagiert sich für Tierrechte. Als Sohn irisch-katholischer Einwanderer wird er in Manchester geboren und wächst in einem Vorort auf. "Schon bei der Geburt war mein Kopf zu groß und ich bereitete meiner Mutter Probleme", schreibt Morrissey in "Autobiography". "Heute bin ich der Risikopatient in diesem Krankenhaus."
Die Schule war für Morrissey die Hölle. Sadistische Sportlehrer demütigen ihre Schüler regelmäßig, aber Morrissey läuft ihnen meist davon und wird ein hoffnungsvoller Sprinter. Ansonsten ist er aber ein Außenseiter. Er kultiviert und stilisiert dieses Außenseitertum aber schon bald. Morrissey verschlingt Oscar Wilde und möchte wie seine Mutter in einer Bibliothek arbeiten. Bereits mit sechs Jahren fängt er an Schallplatten von Sandie Shaw und Marianne Faithful zu sammeln. Elvis Presley, James Dean und Alain Delon sind seine männlichen Helden. Mit zwölf Jahren liest er die wöchentlich erscheinenden, englischen Musikzeitschriften.
Mit 13 verliebt sich Morrissey auf den ersten Blick in eine Frau. Es ist der androgyne Schlagzeuger der New York Dolls. Später sagen ihm Glamrock-Stars wie David "Ziggy" Bowie und Marc Bolan im Pop ist alles möglich. Die Glamrocker prägen Morrisseys Teenagertage, ebenso Patti Smiths und die Factory von Andy Warhol. Besonders verehrt er Paul Morrissey, der bei einigen Underground-Filmen Warhols Regie führt. Als die Sex Pistols 1976 in Manchester auftreten, ist Steven Patrick Morrissey im Publikum. Unter dem Pseudonym Sheridan Whiteside schreibt Morrissey in den späten 70ern bösartige Kritiken für den "Record Mirror" und Drehbücher für Soap Operas, die aber abgelehnt werden.
Johnny Marr, der bürgerlich Maher heißt, schreibt seinen ersten Song bereits mit zehn Jahren. Ende der 70er läuft er bei Rockkonzerten in Manchester diesem seltsamen Vogel Morrissey über den Weg. Nach einigen erfolglosen Bandversuchen beschließt Johnny Marr 1982 diesen exzentrischen Eremiten Morrissey aufzusuchen. "Als ich ihm dann in seiner Eingangstür gegenüberstand, war mir sofort klar, dass er der Richtige ist", erinnerte sich Johnny Marr in einem NME-Interview. Sofort beginnen die zwei mit dem Songschreiben, Johnny Marr die Musik, Morrissey die Texte. Andy Rourke, der den Smiths auch einen leicht funkigen Touch verpasst, wird als Bassist ausgesucht, Mike Joyce fürs Schlagzeug.
"The Queen Is Dead"

Das gleichnamige Album, das der NME zum "besten Album aller Zeiten" kürte, stürmt 1985 bis auf Platz zwei der UK-Album Charts. Da sind The Smiths auf der Insel längst Popikonen. Und Songs wie "Shoplifters of the World unite (...and take over)" dringen als Slogans und geflügelte Worte in die Sprache und Alltagskultur junger Engländer ein.
Vor allem Morrissey, der sich als unnahbarer Dandy gibt und gleichzeitig bekennt, sexuell enthaltsam zu leben, steht im Mittelpunkt. Zum einen mit seiner assoziationsreichen Lyrik, seinen melancholischen Texte, die plötzlich von beißender Ironie und Sarkasmus durchzogen werden. Häufig sind die Queen und Maggie Thatcher Zielscheibe seiner Wut und seines Spotts. Dazu der extravagante Gesangsstil des Crooners, der von Belcanto-Elementen und Koloraturen geprägt ist.
Zum anderen beeindruckt Morrissey mit seinen Auftritten. Mit James Dean-Tolle und in bunten Damenblusen tanzt er entrückt und wild gestikulierend zugleich über die Bühne. Mal trägt er dicke Hornbrillen, dann fuchtelt er wieder mit alten Hörgeräten herum und dekoriert seine Bühne mit Narzissen und Gladiolen. Die Welt ist ja schon grau und trübe genug. Dabei tropft das Selbstmitleid aus vielen Songs und all seinen Poren. Dafür wird Morrissey, werden The Smiths geliebt.
"Sweet & Tender Hooligan"
Der "Sweet & Tender Hooligan", das könnte auch Morrissey selber sein, der die Menschen nicht mag und einige sogar abgrundtief hasst. In "Autobiography" schreibt er beispielsweise über die Autorin und Musikkritikerin Julie Burchill: " Es wäre mir eine Ehre, bei ihrer Beerdigung in ihr Grab zu springen". Den ehemaligen Premierminister Tony Blair wünschte sich Morrissey einmal als Spielball in einem Fussballmatch. "Dann wäre ich fanatischer Fußballfan", so Morrissey. Und auch den Mythos, wonach Independent-Plattenfirmen anspruchsvoller und moralischer als die Industrie wären, kippt Morrissey über Board.
"Panic”
In "Panic" wird aufgerufen die Disco niederzubrennen und den DJ aufzuhängen. Diesen Song schrieben Johnny Marr und Morrissey 1986 als Reaktion auf den Radio-DJ Steve Wright. Der hatte, nachdem er die Nachricht von der nuklearen Katastrophe in Tschernobyl verlesen hatte, den Wham-Song "I’m your man" gespielt.
Bei den Aufnahmen zum Album "Strangeways here we come" sind die Differenzen zwischen Johnny Marr und Morrissey kaum noch zu überbrücken. Marr hatte Acid House entdeckt und wollte mit The Smiths auch elektronische Sounds ausloten. Manchesters Jugend war tanzverrückt, die Hacienda wurde zum berühmtesten Club des Planeten, Man- zu Madchester. Doch Morrissey war strikt gegen die Ideen von Johnny Marr. Der verließ daraufhin die Smiths und gründete mit Bernard Summer von New Order "Electronic". Der Rest der Band begriff schnell, dass Johnny Marr nicht zu ersetzen war und löste The Smiths 1987 auf.
Beleidigt und zerstritten kommunizierten die einzelnen Mitglieder einige Zeit nur über die Presse und über Anwälte miteinander. Morrissey trauert in seiner Autobiographie Johnny Marr beinahe nach, während er Schlagzeuger Mike Joyce, gegen den er einen quälend-langen Rechtsstreit verlor, als "Floh" beschreibt, "der einen Hund sucht."
"Solo"
Johnny Marr als "The Messenger” und Morrissey sind solo recht erfolgreich, aber ob die beiden jemals wiedervereint Musik machen werden, wissen nur die Götter. Morrissey fühlt sich der vergangenen, der viktorianischen Welt, einem Oscar Wild oder sogar Charles Dickens näher als der modernen, wie er sie beschreibt "gerade untergehenden Welt, in die er mit einer Frau beinahe ein kleines Monster gesetzt hätte." Aber der Geist und die Ideen der Smiths, die wie die Beatles und Rolling Stones sowohl eine tolle Singles- wie auch Alben-Band waren, wehen noch durch viele Proberäume und Studios.