Wer sieht uns, wenn wir leiden? Theater und Wirklichkeit
Wo die Politik versagt, hilft nur die Kunst. Echt jetzt? Echt, sagt der Schweizer Theatermacher Milo Rau und erschafft mit dem Theater „echte“ Räume – Konferenzen, Gerichtssäle, Tribunale. Räume, die Wirklichkeit nicht nur darstellen, sondern sind. Und betreibt darin Propaganda, wie er es nennt. Aber seit wann ist in der Kunst Propaganda gut? Und gibt es überhaupt so etwas, wie gute Propaganda?
"Das ist die Lehre der Kunst: Es ist alles möglich, wenn man nur will. Realismus, wie ich ihn verstehe, heisst nicht, dass etwas Reales abgebildet wird. Realismus heißt, dass die Abbildung selbst real wird – auch wenn das, was abgebildet wird, in der Zukunft liegt, also gleichsam aus dem Raum der kollektiven Hoffnungen stammt. Die Idee des 'Kongo Tribunals' war es, mit einer symbolischen Handlung eine Institution in Arbeit zu zeigen, die es nicht gibt, die es aber geben sollte: Es war eine Propaganda-Aktion globalen Maßstabes, quasi das positive Gegenbild der Schauprozesse unserer Geschichte. Denn wenn wir eine globalisierte Weltwirtschaft haben, die konkrete Auswirkungen auf lokale Bevölkerungen hat, dann brauchen wir auch ein globales Recht, das auf lokaler Ebene Recht sprechen kann. Think global, act local, so wie es die Multis seit Jahrzehnten tun. Und das meine ich, wenn ich in Bezug auf das 'Kongo Tribunal' immer wieder den Begriff 'globaler Realismus' verwende: ein Realismus auf Augenhöhe der Weltwirtschaft, der nicht nur Realitäten beschreibt, nicht nur kollektive Einschätzungen verschiebt, sondern letztlich neue Realitäten schafft."
Milo Rau
Was ist Theater? Was heißt Emotion, Präsenz, Geschichte auf der Bühne? Was ist das Tragische, was das Wahre, was das Komische? Welche Ereignisse und welche Bilder berühren oder verletzen uns, versetzen uns in Zorn oder deprimieren uns und begründen unser künstlerisches Engagement? Wie sollen wir sprechen und zuhören, wie Zeugenschaft ableben, und wie schließlich leben und sterben - im Theater?
Milo Rau erzählt von seiner Faszination für Konflikt- und Post-Conflict-Situationen, von der Bedeutung, die Recherche für ihn hat, ebenso wie die "dichte Beschreibung", also die Suche nach politischem Engagement, nach existenzieller Gefahr und der wahrhaftigen Einstellung. Wer sieht uns, wenn wir leiden? Gibt es noch ein tragisches Theater, in welchem der Mensch gegen das So-Sein der Welt revoltiert? Gibt es eine Global-Sprache, eine Universal-Rhetorik, mit der wir zu allen sprechen: zu allen Zeiten, allen Völkern, zu den Menschen genauso wie zu den Dingen? "Die Geschichte wird uns richten", sagte am Ende des "Kongo Tribunals" der Richter des Volkstribunals, Jean-Louis Gilissen. Wie aber kann sich der Mensch, seine Stimme, der künstlerische Akt einschreiben in "die Geschichte" - oder sie gar verändern?
Wer sieht uns, wenn wir leiden?
Theater und Wirklichkeit
Von Milo Rau
Mit Katja Amberger, Thomas Loibl, Lorenz Schuster
Regie: Stephanie Metzger
BR 2017, 52'30
Die Sendung ist eine gekürzte Fassung des 3. Vortrages vom 29. Mai 2017 im Rahmen der 6. Saarbrücker Poetik-Dozentur für Dramatik von Milo Rau.