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Komplizierte Fragebögen Das mühsame Ringen um die Ghettorenten

Reichen fünf Kartoffeln oder ein Teller Suppe am Tag aus, um einen Anspruch auf Rente zu haben? Konnten sich Juden im Ghetto ihre Arbeit frei aussuchen? An wen wurden Rentenbeiträge für sie bezahlt? Diese makabren Fragen beschäftigen seit Jahrzehnten deutsche Rentenversicherungen und Gerichte.

Von: Julia Smilga

Stand: 17.01.2013 | Archiv

Jude im Warschauer Ghetto beim Schneeräumen | Bild: picture-alliance/dpa

Jahrelang haben 70.000 Überlebende des Holocaust um ihre Rente gekämpft. Die meisten vergeblich: 90 Prozent der Anträge wurden abgelehnt. Mit der Begründung, Rente gebe es nur für freiwillige Arbeit und angemessene Bezahlung. Die Wende kam erst, als ein Richter am Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Jan Robert von Renesse, daran ging, Historiker in aller Welt als Gutachter einzusetzen und hochbetagte Antragsteller in Israel persönlich zu befragen.
Die Autorin Julia Smilga verknüpft die Geschichte von Holocaust-Überlebenden, die um ihre Renten kämpfen mussten, mit der des Richters, der versuchte, ihnen gerecht zu werden. Das packende Feature gewann kürzlich beim renommierten "Prix Europa" Platz 2 um die Auszeichnung als bestes investigatives Feature.

Bürokratie widerspricht der Würde des Menschen

Der 79-jährige Kurt Einhorn lebt in Düsseldorf. 2007 hatte er Rente beantragt für die Zeit, in der er im Ghetto gearbeitet hat. Dafür musste Einhorn einen Fragebogen ausfüllen. Acht Seiten lang. 

"Was soll ich auf die Frage, wer mir die Arbeit vermittelt hat, antworten? Bekanntlich hat es im Ghetto keine Arbeitsagentur gegeben. Ferner werden Schulzeugnisse verlangt. Man hat scheinbar vergessen, dass es sich bei den Antragstellern um sehr alte Menschen handelt. Die bürokratische Handhabung widerspricht der Würde des Menschen."

Kurt Einhorn

Kurt Einhorn kam im Spätherbst 1941 ins Ghetto nach Mogilov-Podolski, eine kleine Stadt in Transnistrien, einem Gebiet zwischen Rumänien und der Ukraine. Im Ghetto waren etwa 30.000 Juden eingepfercht. Nur 5.000 haben überlebt. Der Typhus-Epidemie im Dezember 1941 fielen jeden Tag hunderte Menschen zum Opfer. Auch die Eltern von Kurt Einhorn. Der Junge war damals neun Jahre alt. Ganz auf sich gestellt, begann er im Ghetto nach Arbeit zu suchen, um an etwas Essbares zu kommen. Er half den größeren Jungen, die Toten wegzuschaffen – für Brot und Kartoffeln.

Ghettorenten-Gesetz erst 2002

Kurt Einhorn hat in den 1960er-Jahren eine Entschädigung dafür bekommen, dass er seiner Freiheit beraubt worden war und gesundheitliche Schäden erlitten hat. Eine Rente für die Arbeit im Ghetto blieb ihm damals versagt – wie allen Überlebenden. Erst 2002 verabschiedete der Bundestag das sogenannte Ghettorenten-Gesetz. Offizieller Titel: "Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto", kurz ZRBG. Menschen wie Kurt Einhorn schöpften Hoffnung. Das Problem: Die Antragsteller mussten beweisen, dass sie sich damals ihre Arbeit im Ghetto freiwillig ausgesucht hatten und dafür bezahlt wurden. Denn eine Arbeitsrente gibt es in Deutschland nur für freiwillige und entlohnte Arbeit.

"Der Hunger hat mich gezwungen, aber sonst hat mich niemand gezwungen. Auch diese Formulierungen, da soll ein 90-Jähriger was darunter verstehen: Haben Sie in einem der Ziffer 1 Punkt 1 angegebenen Ghettos gearbeitet? Zeitraum von bis, Monat Jahr Monat Jahr, Arbeitsstelle, Arbeitgeber, Art der Arbeit. Als hätte ich damals Tagebuch geführt von jedem Tag, was ich gemacht habe. Ich wusste nicht, ob ich am nächsten Tag noch am Leben sein werde. Wie soll ich mir solche Daten merken?"

Kurt Einhorn über den Rentenfragebogen

Pionierarbeit eines Richters

An die 70.000 ehemalige Ghettobewohner in Deutschland, aber auch in den USA und in Israel kämpften sich durch die Rentenanträge. 93 Prozent lehnten die deutschen Rentenkassen zunächst ab. Jan Robert von Renesse, Richter am Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, hielt das Antragsverfahren für ungeeignet:

Jan Robert Renesse

Jan Robert von Renesse prüfte die Klagen der Ghetto-Überlebenden aus Israel in zweiter Instanz

"Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass es ausreicht, irgendeinen Fragebogen hinzuschicken. Das ist sonst gängige Praxis. Sozusagen: Nun schreib mal bitte auf drei Zeilen, wie war es im Ghetto. Vergiss mal bitte, dass deine Eltern da ermordet wurden, und sag doch, die Arbeit war doch schön?'"

Dem Richter wurde bald klar, dass es nicht darum ging, nur Fragebögen auszuwerten. Er wollte mit den Betroffenen sprechen. Deshalb verlegte er die Gerichtsverhandlungen nach Israel, um die hochbetagten Überlebenden selbst anzuhören. Er wies nach, dass es im Ghetto tatsächlich in gewissem Maß freie Entscheidungen und entlohnte Arbeit gab. Auf dieser Grundlage fällte er seine Urteile. Sie gingen zu 60 Prozent zu Gunsten der Überlebenden aus.

Die Pionierarbeit von Richter Renesse und seinem internationalen Historikerteam trug Früchte. Im Juni 2009 änderte das Bundessozialgericht in Kassel seine Rechtsprechung und erleichterte den Zugang zu den Ghettorenten. Mehr als die Hälfte der einst abgelehnten Anträge wurden nachträglich doch bewilligt.

Buchtipps

  • Kristin Platt: Bezweifelte Erinnerung, verweigerte Glaubhaftigkeit. Überlebende des Holocaust in den Ghettorenten-Verfahren. Verlag Wilhelm Fink (2012).
  • Stephan Lehnstaedt: Geschichte und Gesetzesauslegung: Kontinuität und Wandel des bundesdeutschen Wiedergutmachungsdiskurses am Beispiel der Ghettorenten. Fibre Verlag (2011).
  • Jürgen Zarusky (Hrsg.): Ghettorenten. Entschädigungspolitik, Rechtsprechung und historische Forschung. Oldenbourg Wissenschaftsverlag (2010).

Nach seinem größten beruflichen Erfolg wurde Richter von Renesse ins berufliche Aus katapultiert. Im April 2010 wurde er von allen Ghettofällen abgezogen, stattdessen hat er Behindertenausweise zu prüfen. Inzwischen erhebt er schwere Vorwürfe gegen seine Kollegen, von denen er sich gemobbt fühlt. Und er klagt gegen seinen Arbeitgeber, wehrt sich gegen Eingriffe in die richterliche Unabhängigkeit. Die Justiz tut sich schwer mit einem Juristen, der seine richterliche Verantwortung ernst nimmt - und mit der Aufarbeitung auch des womöglich letzten Kapitels der Nazi-Geschichte.

Das Thema ist bei den Politikern angekommen

Aber Renesses Einsatz war nicht umsonst: Im Dezember 2012 gab es im Deutschen Bundestag eine Anhörung zur Auszahlung von Ghettorenten. Anlass waren zwei Anträge der Oppositionsfraktionen, die das Ghetto-Rentengesetz ändern wollen. Die SPD und Bündnis 90/ Die Grünen wollen erreichen, dass die von ehemaligen Ghetto-Insassen fristgerecht gestellten, aber zunächst abgelehnten und erst nach 2009 bewilligten Rentenanträge bewilligt und die Renten rückwirkend ab dem 1. Juli 1997 ausgezahlt werden. Die Betroffenen hatten ihre Rente erst ab dem Jahr 2005 erhalten. Begründet worden war dies mit der im Sozialrecht geltenden Rückwirkung von maximal vier Jahren.


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