Sybille Canonica liest Emine Sevgi Özdamar: Ein von Schatten begrenzter Raum
Der sprachmächtige, autofiktionale Roman von Emine Sevgi Özdamar und ihr überbordendes Leben sprengt alle Grenzen, wirbelt auf fast 800 Seiten durch alle Genres durcheinander. Ein monumentales Kunstwerk, das mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Heute wurde bekannt, dass die in der Türkei geborene Emine Sevgi Özdamar den wichtigsten deutschen Literaturpreis, den Georg-Büchner-Preis, erhält.
"Ich danke Bayern", sagt die Gewinnerin des Bayerischen Buchpreises Emine Sevgi Özdamar im vergangenen November, "und seinen wunderbaren Kindern wie Karl Valentin, Bert Brecht, Martin Sperr, Herbert Achternbusch, Rainer Werner Fassbinder, Sophie und Hans Scholl und meinem Regisseur Franz Xaver Kroetz." Jetzt erfolgte eine weitere Ehrung. Özdamar erhält den Georg-Büchner-Preis, als erste Autorin, deren Muttersprache nicht Deutsch ist.
"Wenn man von seinem eigenen Land einmal weggegangen ist, dann kommt man in keinem neuen Land mehr an."
Emine Sevgi Özdamar
"Ihre kranken türkischen Worte in ein Sanatorium zu bringen", wie Emine Sevgi Özdamar in dem Gespräch mit Cornelia Zetzsche sehr bildhaft erzählt, war ihr ganzes Ansinnen, 1971 nach dem Militärputsch ihr Land zu verlassen, der alle Träume nach Freiheit und Demokratie zerstörte. Und das "Sanatorium" war für die Istanbuler Schauspielerin das Brecht-Theater und damit die Volksbühne Berlin in der ehemaligen DDR. Dort kam sie 1975 an und begann als Regieassistentin bei Benno Besson, dem legendären späteren Leiter der Volksbühne Berlin. Drei Jahre später ging sie mit Benno Besson noch Paris, baute Figuren für Bessons berühmte Brecht-Inszenierung "Der kaukasische Kreidekreis", studierte dort an der Pariser Universität Dramaturgie, arbeitete mit Theaterikonen wie Claus Peymann und Matthias Langhoff zusammen, spielte in verschiedenen Filmen, schrieb und inszenierte Theaterstücke und Romane, wurde vielfach ausgezeichnet vom Ingeborg-Bachmann-Preis 1991 bis zum Kleist-Preis oder Fontane-Preis. Und nun kommt der mit 5000 Euro dotierte Bayerische Buchpreis dazu. Aus diesem überbordenden Leben, den Begegnungen mit Künstlern und Künstlerinnen, den verschiedenen Sprach- und Kulturräumen schöpft Emine Sevgi Özdamar in ihrem neuen autofiktionalen Roman.
"Ein von Schatten begrenzter Raum"
"Damals, als ich aus Istanbul hierherkam, hatte ich mich gefragt: Warum bin ich hier? Oder vielleicht hatte ich mich nicht gefragt, ich weiß es nicht mehr, es ist so lange her. Damals, Anfang der Siebzigerjahre, hatte das türkische Militär geputscht und war in alle Träume der jungen oder nicht jungen Menschen mit seinen großen, schweren Flügeln aus Eisen geflogen, um sie in Stücke zu brechen." Emine Sevgi Özdamar
Eine namenlose Ich-Erzählerin blickt zurück auf die Siebzigerjahre. Als das türkische Militär die Macht an sich riß und eine Diktatur etablierte, flüchtete die damals junge Schauspielerin auf eine magische Insel in der Ägäis, mit Blick auf Europa, folgt, allen Warnungen der Krähen zum Trotz, ihrer Bewunderung für Brecht und geht zum Brechtschüler Benno Besson an die Volksbühne in Ostberlin. Ohne Shakespeare und Brecht sind für Emine Sevgi Özdamar die 68er nicht zu denken. Brecht schien ihr Heilung der mißbrauchten Sprache und ihrer im Faschismus krank gewordenen Wörter.
Emine Sevgi Özdamar: "Brecht hatte ja auch vor uns eine körperliche Erfahrung mit dem deutschen Faschismus gehabt, und natürlich sich mit den Wörtern gewehrt, wie etwa in dem Gedicht: "Das Große bleibt nicht groß und klein nicht das Kleine. Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag." Diese Sätze, die er damals geschrieben hat, im deutschen Faschismus, hat mir in der Türkei Mut gemacht, Kraft gegeben, so dass es mein Traum wurde, zu gehen, um aus dem Brunnen, in den ich reingefallen bin, rauszukommen und Brecht-Theater zu lernen, also werde ich nach Deutschland gehen."
"Der Kaukasische Kreidekreis erinnert mich an mein Land", schreibt sie, da wie dort ein Staatsstreich, Gewalt von oben, Grausamkeit gegen die da unten. Als Regieassistentin arbeitet sie mit Benno Besson an dem Brechtstück, erst in Berlin, dann in Paris und Avignon. Und weil ihr Französisch noch eine "blinde Sprache" ist, nähert sie sich dem Stück mit Zeichnungen und Puppen aus alten Flaschen, denen sie Strümpfe überzieht. Tausende solcher Zeichnungen und Figuren sind heute im Theatermuseum "La Maison Jean Vilar" in Avignon. Eine solche Assistentin hätte sich Brecht gewünscht, sagt Thomas Langhoff später. Aber Besson ist prägend.
Emine Sevgi Özdamar: "Damals in der Türkei, als wir am Theater nicht mehr arbeiten konnten, haben wir dauernd theoretisch geredet. "Brecht, Brecht, Brecht, wo ist er jetzt, Verfremdungseffekt? Wenn ich jetzt aus dem Bus steige, wo ist er jetzt, der Verfremdungseffekt?" Also so ein Quatsch, na und das ist ja dann verschwunden. Benno Besson war einer der wirklich fantastischsten Regisseure. Mir gefiel, wie er zum Beispiel Hamlet inszenierte, und darin sagt Polonius, glaube ich: "Wenn der König redet, musst Du dauernd nicken." Dann sagte der Benno: "Entweder nickt man oder versteht man." Und das gefiel mir. Besson redete immer in so dialektischen Sätzen, und er war auch natürlich sehr menschlich und charmant und kokett. Er zeigte den Schauspielerinnen, wie man Frauen-Koketterien spielt."
Deutschland ist für Emine Sevgi Özdamar und ihr Alter Ego im Roman das Land ihrer Regisseure von Benno Besson bis Franz Xaver Kroetz bis Doris Dörrie. Als Thomas Langhoff "Lieber Georg" von Thomas Brasch inszenierte, kam sie als schwangere türkische Putzfrau auf die Bühne. Anders war eine türkische Frau hierzulande nicht vorstellbar, die Debatte um Diversität noch fern.
Emine Sevgi Özdamar: "Für mich persönlich ist es ja kein Unterschied, ob ich jetzt Ophelia spiele oder eine Putzfrau, weil ich beide herstellen muss, die künstlerische Arbeit ist die gleiche, während du diese Figur erfindest. Die Rolle als Putzfrau hatte ich dann auch akzeptiert, weil in Deutschland noch kein Prozess mit den Ausländern stattgefunden hatte, das fing ja erst an."
"Für Ausländer gibt es keine Ophelia", sagt sie am Telefon zu ihrer Mutter in Istanbul, während die Militärhubschrauber im Himmel kreisen und in der Türkei die Zeit des Tötens beginnt. "Das Licht der Polizei leuchtet, das Land verfällt ins Dunkel, in Schatten. Im patriarchalen Staat kann der Vater, kann die Obrigkeit jede Gewalt ausüben." Immer wieder leuchtet der Roman dunkle Stellen aus: den Genozid an den Armeniern, die Vertreibung der Griechen, Terror gegen Kurden und Aleviten, den ewigen Kreislauf der Gewalt.
Emine Sevgi Özdamar. "Die Türkei hat sich mit seiner Geschichte nicht auseinandergesetzt, und die kommt als Bumerang zurück. Da sind unheilige Energien, die dann als Giftgas zurückkommen werden. Und so ist das."
Auf 760 Seiten erzählt Emine Sevgi Özdamar vom Leben und Theaterleben ihrer Ich-Erzählerin, vom Schatten der Diktatur, von einer Pause der Hölle. Die Hölle, das meint die wiederkehrende Gewalt, den Zweiten Weltkrieg, den Terror in der Türkei bis zum religiös verbrämten, islamistischen Anschlag auf Charlie Hebdo. Die Pause ist die Bohème Europas, Paris die Stadt der Boulevards, das kriegsversehrte Berlin, nach Godard, "Draculas Grabmal".
Emine Sevgi Özdamar: "Ich mach das heute noch in Berlin, wenn ich neben meinem Mann im Auto sitze und aus dem Fenster gucke, dann sage ich: "Hier ist eine Boom Boom, Boom, Boom, nicht Bomb aus nicht Boom-Haus aus Boom, Boom, Boom, Boom, Boom. Die kannst du noch sehen, auch wenn die Häuser repariert und neue gebaut sind. Aber trotzdem erinnern sie einen sehr stark daran, dass im Krieg dort Bomben gefallen sind."
"Ein von Schatten begrenzter Raum" ist ein Künstlerroman wie "Ein Porträt des Künstlers als junger Mann" von James Joyce. Ein Selbstporträt. Der Entwicklungsroman einer jungen türkischen Schauspielerin, die in der Welt ihren Platz sucht, ein Niemand in der Fremde, immer auf der Suche nach einem Dach über dem Kopf als Chiffre einer fragilen Existenz. "Ich leben in Benno Besson", "Ich lebe im Chancon von Edith Piaf", "Ich lebe in einem Lächeln", heißt es. Zuhause ist nur das Theater. Eine Lampe Gesprächspartnerin in der Einsamkeit, trotz aller Freunde, Begegnungen, Stimmen, Episoden. Der Schatten, das Wohnen sind immer wiederkehrende Motive im sepiabraun getönten Erzählmuster der Erinnerung. Emine Sevgi Özdamar folgt, assoziativ, episodisch bildstark, autobiographischen Spuren, öffnet aber zugleich magische Räume voller Poesie, Farben, Klänge, Stimmen. Schatten haben Gestalt. Wörter sind Körper, Menschen Musiknoten. Dinge und Tiere sprechen. "Es gibt keine Rückkehr", sagt der Mosquito gleich zu Beginn. "In Europa wird unsere Identität klein gemacht", warnt die Krähe. Stimmen, Orte, Zeiten gehen fließend ineinander über, der Blick aus der Gegenwart fällt auf die Vergangenheit, aus der Vergangenheit in die Zukunft. Erfahrung führt zum Erzählen sagt Emine Sevgi Özdamar, und das ist ein Balanceakt unter der Schreibtischlampe, im vom Schatten begrenzten Raum.
Emine Sevgi Özdamar: "Das ist eine Arbeit. Das ist ein Musikstück, man muss da die Wörter über einem Seil laufen lassen, ohne herunterzufallen. Also, das ist dann wie Komponieren."
Am Sonntag, 14. August liest die Schauspielerin Sibylle Canonica vom Münchner Residenztheater Auszüge aus dem bei Suhrkamp erschienenen Roman der frisch erkorenen Büchner-Preisträgerin.