Nina Kunzendorf liest Francesca Melandri: Kalte Füße
„Sag mir, was Krieg ist“, bittet Francesca Melandri ihren Vater, ehemaliger Offizier im Zweiten Weltkrieg, der als Alpini genau dort kämpfte, wo heute, 82 Jahre später, wieder gekämpft wird: in der Ukraine. Francesca Melandris persönlichstes Buch ist ein Zwiegespräch mit ihrem Vater und ein Nachdenken über Krieg und Ignoranz. Lesung mit Nina Kunzendorf.
"Wir sind für Frieden. Aber ich, ich muss herausfinden, was Krieg ist, Papa. Deshalb brauche ich deine Hilfe."
(aus Francesca Melandri, Kalte Füße)
Charkiw, Luhansk, Mariupol, Bachmut: Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine sind ständig Orte in den Nachrichten, die die italienische Autorin Francesca Melandri aus den Büchern ihres Vaters kennt, aus seinen Geschichten über den Zweiten Weltkrieg bei den Alpini, den italienischen Soldaten, die an der Seite Hitler-Deutschlands in die Sowjetunion, eigentlich aber in die Ukraine einmarschierten. Was aber wurde nicht erzählt? Die Bestsellerautorin Francesca Melandri („Alle, außer mir“, 2018) verknüpft in ihrem neuen Buch Familiengeschichte mit Weltgeschichte angesichts des erneuten Endes des Friedens in Europa.
Francesca Melandri: „Sag mir, was Krieg ist, Papa“
"Eigentlich ist mein Buch ein langer Brief an meinen Vater. Er wurde 1919 geboren, als Italiener gehörte er also der Generation an, die im Zweiten Weltkrieg auf der falschen Seite kämpfte, der der Faschisten, der Achse Berlin-Rom. Er war ein junger faschistischer Offizier, der an der „Ostfront“ stationiert war; wir Italiener sagen immer „Russland“, obwohl es eigentlich die UDSSR war. Und was ich in meinem Buch versucht habe, ist, meinen Vater, seine Erinnerungen, seine Bücher zu befragen: Bitte, erklär mir, was Krieg ist, weil ich es nicht weiß und Du, Papa, du musstest lernen, was Krieg ist – ob du wolltest oder nicht."
(Francesca Melandri)
Immer wieder hat sich die Römerin ein Video angeschaut von einem sehr jungen russischen Soldaten, dem von ukrainischen Frauen geholfen wird – ganz ähnlich, wie es Melandris Vater vor über 80 Jahren erging während des „Ritirate di Russia“, des sogenannten Rückzugs aus Russland im Winter 1942/43, der eigentlich ein Rückzug aus der Ukraine war. Ihr Vater, ein faschistischer Offizier der Alpini, hätte nicht überlebt, wenn ihm nicht ebenfalls von ukrainischen Frauen geholfen worden wäre. Und sie, Tochter Francesca, gäbe es heute nicht. Der absurde historische Clash treibt Francesca Melandri an in diesem bislang persönlichsten Buch von ihr. Dass Putins Invasion in die Ukraine seit Frühjahr 2022 zum Zwecke der „Entnazifizierung“ quasi den Zweiten Weltkrieg fortsetzt, geht ebensowenig in Melandris Kopf. „Wer weiß, wie du reagieren würdest, Papa, wenn er dir sagte, dass der von ihm begonnene Krieg eine Fortsetzung deines Krieges ist“, so schreibt sie an ihren Vater gerichtet.
„Kalte Füße“ der Alpini vor 82 Jahren in der Ukraine – und heute?
Es ist ein atemberaubender, fast dreihundert Seiten langer Brief an ihren Vater geworden: Melandris Beschreibung der Geschichte(n) ihres Vaters - von den frierenden Füßen als schlecht ausgerüsteter Offizier mit Pappschuhen bis zum Schuh schlagenden Genosse Generalsekretär Chruschtschow 1960 bei der UNO-Generalversammlung. Und es ist eine gründlich recherchierte, aber auch politische und selbstkritische Auseinandersetzung mit ihrer Generation, die niemals Krieg und Hunger kennenlernen musste, die in „glücklicher Ignoranz“ als pazifistische Westeuropäer über achtzig Jahre leben durfte. Und was jetzt?, fragt die Autorin zum Schluss: „Wie werden wir uns verhalten, wenn der Krieg eines Tages keine Fernsehserie mehr ist, sondern der Fluch des echten Lebens?“
Francesca Melandri, 1964 in Rom geboren, gehört zu den beliebtesten italienischen Autorinnen der Gegenwart. Melandri hat sich zunächst als Autorin von Drehbüchern für Kino- und Fernsehfilme einen Namen gemacht (u.a. „Prinzessin Fantaghirò“). Mit ihrem ersten Roman »Eva schläft« wurde sie auch einem breiten deutschsprachigen Lesepublikum bekannt. Ihr zweiter Roman »Über Meereshöhe« wurde von der italienischen Kritik als Meisterwerk gefeiert. Ihr dritter Roman »Alle, außer mir« wurde 2018 zum Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels gewählt, erlebte zahlreiche Nachauflagen und stand zehn Wochen lang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Melandri ist Gründungsmitglied des PEN Berlin. Bei der Frankfurter Buchmesse 2024 vertritt Francesca Melandri Italien als Delegierte des diesjährigen Gastlands.
„Kalte Füße“ als Hörbuch-Podcast in der ARD Audiothek
Unter der Regie von Anna Hartwich (NDR) hat die vielfach preisgekrönte Schauspielerin Nina Kunzendorf, u.a. bekannt für ihre Rollen im Tatort, in der TV-Serie „Charité“ oder in Christian Petzolds Film „Phoenix“, das Buch von Francesca Melandri vollständig eingelesen – zu finden als Hörbuch-Podcast in der ARD Audiothek!
Das Buch, aus dem Italienischen von Esther Hansen, ist im Wagenbach Verlag erschienen.
Regie: Anna Hartwich
Ton und Technik: Kai Schliekelmann
Produktion: NDR Kultur/Bayern 2 2024
Redaktion: Kirsten Böttcher, Anna Hartwich und Judith Heitkamp