Reisereportagen Mit Joan Didion durch den Süden der USA
Mehr als sechs Jahrzehnte lang legte sie schreibend den Finger in die Wunden Amerikas und wurde zur berühmtesten essayistischen Stimme ihrer Heimat. Joan Didion ist einen Tag vor Heiligabend im Alter von 87 Jahren verstorben. Schauspielerin Lisa Wagner liest aus Didions Reisereportagen "Süden und Westen". Im Anschluss: nemo - das literarische Ratespiel
Eigentlich besteht der Band mit dem schlichten Titel „Süden und Westen“ nur aus Notizen über eine USA-Reise im Sommer 1970, die nie als Reportagen gedruckt wurden. Nichtsdestotrotz ergeben die erst 2018 auf Deutsch publizierten Aufzeichnungen der zarten Ikone des "New Journalism" ein bestechendes Porträt uramerikanischer Landschaften.
"Im Süden kam mir fast ständig der Gedanke in den Sinn, dass ich, wenn ich hier gelebt hätte, eine Exzentrikerin gewesen wäre und voller Wut, und ich fragte mich, welche Form diese Wut angenommen hätte. Hätte ich begonnen, mich zu engagieren, oder hätte ich einfach jemanden mit dem Messer erstochen?"
(Joan Didion, Süden und Westen)
Ein Ausflugsdampfer auf dem Yazoo Kanal, dem Old Mississippi River, bei Vicksburg im US-Bundesstaat Mississippi, aufgenommen 1994
Im Sommer 1970 unternahm die 35-jährige Joan Didion, schon damals berühmte Romanautorin und Journalistin, mit ihrem ebenfalls schreibenden Mann John Gregory Dunne eine Reise in die Südstaaten. Die vage Idee der früheren Vogue-Autorin, ihre Notizen in eine Reportage umzusetzen, wurde jedoch erst 2017 realisiert. Die von Antje Rávic Strubel übersetzten Reiseaufzeichnungen belegen wieder einmal Didions stilistische Eleganz, ihren Willen zur Präzision, ihr Gespür für die feine Linie zwischen Empathie und Distanz und nicht zuletzt ihren stetigen Kampf mit sich selbst als Perfektionistin und Zweiflerin.
"Die meiste Zeit meines Lebens befand ich mich im Irrtum über dieses und jenes."
(Joan Didion)
Ergänzt werden Didions Reisenotizen um lange unveröffentlicht gebliebene Aufzeichnungen, die 1976 entstanden, als sie in San Francisco im Auftrag des Rolling Stone den Prozess beobachtete, der der Millionenerbin Patty Hearst wegen Bankraubs gemacht wurde.
Chronistin der kalifornischen Paranoia
Die gebürtige Kalifornierin, die ihre Teenager-Jahre unter anderem mit dem Abtippen Hemingway'scher Werke verbracht hatte, um dessen Satzstrukturen zu analysieren, hatte sich bereits Ende der 60er mit ihren Essays über die Hippie-Zeit und über ihren Heimatstaat Kalifornien („Slouching Towards Bethlehem“, 1968) eine Namen in der heimischen Presselandschaft gemacht. Ihre Themen trafen den Zeitgeist: Sie schrieb über Jim Morrison, über die vernachlässigten Kinder ihrer Generation, über den Bürgerkrieg in El Salvador, über Charles Manson. Alle bedeutenden amerikanischen Magazine - von Life bis The New York Review of Books - druckten ihre Reportagen.
"Joan Didion is the poet of the Great Californian Emptiness."
(Martin Amis über Joan Didion)
Das Paar Joan Didion und John Gregory Dunne waren nicht nur privat, sondern auch als Autoren eine symbiotische Einheit, lektorierten ihre Texte gegenseitig, gingen gemeinsam auf Rechercherreisen, schrieben zusammen Drehbücher. Den plötzlichen Tod von John im Jahr 2003 nach einem Besuch bei ihrer schwer kranken Adoptivtochter Quintana Roo verarbeitete Joan in „Das Jahr magischen Denkens“ (2005). Das autobiografische Buch über Trauer und Tod wurde nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in Europa ein durchschlagender Erfolg; es ist hierzulande sicherlich das bekannteste. 2005 erhielt Joan Didion für dieses Werk den National Book Award. 2012 wurden ihr die National Humanities Medal und die National Medal of Arts zugesprochen.
"I’m surprised she hasn’t already gotten this award."
(Barack Obamas Kommentar während der Preisverleihung 2012)
Joan Didion - die bedeutendste Essayistin der USA
Die mittlerweile vor einem halben Jahrhundert aufgeschriebenen Reisenotizen der Journalistin, die - wie in der Netflix-Biografie „The Center will not hold“ (2017) zu sehen - gern ihre Tage mit Oversize-Sonnenbrille und einer eiskalten Coke in der Hand begann, sind eine Mischung aus Anekdoten und subjektiven Einschätzungen, Nahaufnahmen aus Waschsalons, Restaurants, Plantagen.
"Im Süden sind sie davon überzeugt, dass sie in der Lage sind, ihr Land mit dem Blut der Geschichte zu tränken. Im Westen fehlt uns diese Überzeugung."
(Joan Didion, Süden und Westen)
Film-Still aus der Netflix-Dokumentation über die Journalistin und Autorin Joan Didion: "THE CENTER WILL NOT HOLD" (2017)
Dass Didion diese Texte ausgerechnet 2017 publizierte, wurde auch als Kommentar zu Donald Trump und dessen Wählerschaft interpretiert. Dem "Guardian" sagte sie im selben Jahr, diese Zeiten markierten für sie "the scariest of times". Glamour und Gescheitheit, Eleganz und Intellekt - all das vermochte die fragile Autorin zu vereinen, die jahrzehntelang die Untiefen des American Dream freizulegen verstand. Joan Didions klarer Kopf wird ihrer fragiler werdenden Heimat fehlen.
"Sie ist die bedeutendste Essayistin der USA. Und es gibt erst recht nach dem Tod von Susan Sontag keine amerikanische Essayistin, die präziser und kühler beobachtet hat und schonungsloser formuliert hat als Joan Didion. Alles absolut ohne Sentimentalität, ohne Gefühligkeit, allerdings auch ohne Hoffnung."
(Sigrid Löffler im DLF)
"Süden und Westen. Notizen" von Joan Didion
aus dem Amerikanischen von Antje Rávic Strubel
erschienen im Ullstein Verlag
Lesung mit Lisa Wagner am 25. Januar
in den radioTexten am Dienstag auf Bayern2
Im Anschluss:
nemo - das literarische Ratespiel
Mit Elisabeth Tworek, Andreas Trojan und frischem Hörer-Rätsel
Die Lesung ist auch als Podcast hier verfügbar (ab 25. Januar).
Moderation und Redaktion: Antonio Pellegrino