Gottlieb Mittelberger Schrecken deutscher Flüchtlinge um 1750
Ein Dorflehrer wagt den Aufbruch, flieht aus der schwäbischen Heimat, muss mit Schlepperbanden, lebensgefährlichen Bootspassagen und dem Misstrauen im Ankunftsland zurechtkommen: Was ein Deutscher im 18. Jahrhundert auf der Flucht nach Amerika erleben und erleiden musste, wird im Bericht Gottlieb Mittelbergers nur allzu deutlich. Lesung mit Heiko Ruprecht
"Wenn man dieses alles wird gelesen haben, so zweifle ich keineswegs, es werden die Leute, die etwa noch dahinzuziehen willens sein möchten, in ihrem Vaterland verbleiben und diese so lange und schwere Reise und damit verbundenen Fatalitäten sorgfältig verabscheuen, indem ein solcher Zug bei den meisten den Verlust Hab und Guts, Freiheit und Ruhe, ja bei nicht wenigen Leibs und Lebens, und ich darf wohl sagen, Seele und Seligkeit nach sich ziehet."
(Gottlieb Mittelberger, Reise nach Pennsylvanien, 1756)
Er hatte Glück, er kam nach vierjährigem Aufenthalt in Pennsylvania im Jahre 1754 in seiner Heimat in einem Stück wieder an. Sein Bericht, der zwei Jahre später erschien, sollte eine Warnung sein - doch bis Anfang des 20. Jahrhunderts sind ca. fünf Millionen Deutsche nach Amerika ausgewandert. Die Not im "Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation" war zu groß.
Schlepperbanden, Camps, Menschenhandel
Gottlieb Mittelberger (1714-1758), ein schwäbischer Schulmeister, hatte gerade seinen Job verloren, als er den Auftrag erhielt, eine Orgel in die "Neue Welt" zu begleiten. 1750 reiste er also von Enzweihingen über Rotterdam nach Philadelphia. Für diese Strecke benötigte Mittelberger ein halbes Jahr! Welches Elend er auf dieser Reise, vor allem auf See, miterleben musste, wie mit den deutschen Auswanderern in den Häfen von Rotterdam und Philadelphia verfahren wurde, beschreiben seine Aufzeichnungen detailliert und plastisch.
"Die Auswanderer nach Amerika" - Gemälde, um 1850, von Franz Wilhelm Harsewinkel (1796-1872). Oel auf Leinwand
Das Risiko, schon vor Erreichen der Atlantik-Küste in substantielle Not zu geraten, war hoch: Allein der lange Weg zur Küste verzehrte den Großteil des für die Flucht aufgesparten Geldes. Immer neue Gebühren und Bestechungsgelder für Schlepper fielen an, mancher Reisende war völlig mittellos, wenn er es endlich zum Hafen geschafft hatte. Dort lagerten Massen an Ausreisewilligen aus vielen Regionen Deutschlands in überteuerten und provisorischen Camps. Die Schiffspassage war gefürchtet, aus guten Gründen: Die Schiffe waren stets überfüllt, viele in schrecklichem Zustand. Und wer nach der Überfahrt die "Neue Welt" tatsächlich lebend erreichte und nicht über das nötige Kleingeld verfügte, wurde wie eine Ware verschachert.
"Wenn die Schiffe bei Philadelphia nach der so langen Seefahrt angelandet sind, so wird niemand herausgelassen, als welche ihre Seefrachten bezahlen oder gute Bürgen stellen können; die anderen...müssen noch so lange im Schiffe liegen bleiben, bis sie gekauft und durch ihre Käufer vom Schiff losgemacht werden."
(Gottlieb Mittelberger)
Die "Neue Welt": eine bessere Welt?
Mit seinem Bericht wollte Mittelberger alle Aufbruchswilligen warnen, ein neues Leben im verheißungsreichen Amerika nicht zu idealisieren und vor allem achtsam zu sein, nicht den "holländischen Menschen-Händlern" auf den Leim zu gehen, die den Deutschen alle nur erdenklichen Lügen auftischen würden, nur, um dann später Geld aus ihnen auszupressen - er selbst konnte da aus eigener Erfahrung schöpfen.
Dennoch blieb ihm viel erspart, als er endlich im Oktober 1750 Pennsylvania erreichte. Mittelberger fand alsbald eine Anstellung als Lehrer und Organist. So konnte er nicht nur die grauenhaften Umstände der Schiffsüberfahrt schildern, sondern etwas aus dem amerikanischen Alltag erzählen. Er staunt über den massiven Fleischkonsum beispielsweise und hält auch seine Eindrücke fest über die "wilden Leute", die "Indianer". Männer und Frauen könne man schlecht auseinanderhalten, schreibt er, denn wegen "Mangel des Barts" bei den Männern, die keine Bärte duldeten, sowie gleicher Kleidertracht (nur "Teppiche"!) sähen sie irgendwie alle gleich aus. Doch der Dorflehrer zeigt sich durchaus beeindruckt von den Ureinwohnern.
"Es sind sehr starke, große und beherzte Leute ihnen. Sie duzen auf ihre Sprache jedermann, auch den Gouverneur selbst und können laufen wie ein Hirsch."
(Gottlieb Mittelberger)
Gottlieb Mittelberger kehrte 1754 nach Deutschland zu seiner Familie zurück.
"Reise in ein neues Leben"
Ein Bericht von Gottlieb Mittelberger
Lesung mit Heiko Ruprecht
am 23. April 2023 in den radioTexten am Sonntag, um 12.30 Uhr auf Bayern2
Redaktion: Judith Heitkamp
Das Buch Gottlieb Mittelbergers mit dem Titel "Reise in ein neues Leben", mit einer Nachrede zur deutschen Auswanderung und Willkommenskultur von Wolfgang Hörner, ist im Verlag Das Kulturelle Gedächtnis erschienen.
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