O helles Licht, erleuchte meine Nacht Wen meint er eigentlich mit "Ich"?
"Mir ist ich weiß nicht wie / ich seuffze für und für". "Ich bin nicht der ich war / die Kräfte sind verschwunden". "Mir grauet vor mir selbst / mir zittern alle Glieder." Immer wieder sagt Gryphius "ich", immer wieder spricht ein "Ich" uns an, das zweifelt, hadert, grübelt, klagt, zetert, hofft und bangt. Gelegentlich berichtet dieses "Ich" von sehr realen Dingen: Von Reiseeindrücken, Stadtbränden, Todesfällen, Hochzeiten, von Kriegsgefahr, von Lebensangst und Bibliotheksbesuchen. Doch wer sagt hier eigentlich "ich"? Ist es der biografische, reale Gryphius? Ist dieses "Ich" ein lyrisches Schlüsselloch, durch das uns der Dichter seinen Alltag ausspähen lässt?
Das kollektive "Ich" - ein lyrisches Tauschangebot
Definitiv nicht! Selbst da, wo Gryphius von realen, wiedererkennbaren Anlässen und zeitgeschichtlichen Fakten ausgeht, selbst da, wo er tatsächliche Erlebnisse und überprüfbare Umstände verarbeitet, haben wir es nicht mit einem platt biografischen, sondern stets mit einem vollständig in Kunst verwandeltem "lyrischen Ich" zu tun. Wenn der Barockdichter Gryphius "Ich" sagt, hat dieses "Ich" seine biografische Exklusivität gründlich abgestreift. Es ist kein poetisches Selfie, es plaudert keine Tagebuchgeheimnisse aus.
Lesen und Hören als "Ich"-Transfer auf Zeit
Die Suche nach dem "Ich" des Autors und seinem Schreibanlass ist zweifellos legitim. Aber sie birgt das Risiko, den Blick auf das Gedicht als eigenständiges Sprachkunstwerk und zugleich auf seine allgemein menschliche Zuständigkeit zu verstellen. Das "Ich", das uns in diesen Gedichten anspricht, ist nicht mehr Gryphius, sondern der exemplarische Mensch in seinen Fragen an die Welt. Im Kunstwerk gibt der Autor den "biografischen Besitz" am individuellen Erlebnis auf. Er gestaltet ein überindividuelles "Ich" als offenes Identifikationsangebot, das der Leser oder Hörer eine Zeit lang als sein eigenes befragen, ausspüren und annehmen kann.