Das Thema Dostojewskis "Großinquisitor"
Fjodor Michailowitsch Dostojewski gilt neben Tolstoj als bedeutendster russischer Dichter. 1821 wurde er als einer der Söhne eines russischen Militärarztes und dessen Frau in Moskau geboren. Zwei Jahre nachdem seine Mutter an Tuberkulose verstarb, wurde sein Vater 1839 ermordet. Er besuchte bis 1843 die Ingenieurschule der Militärakademie in St. Petersburg und wurde technischer Zeichner im Kriegsministerium. Schon mit den Romanen "Arme Leute" und "Der Doppelgänger" hatte Dostojewski 1846 einigen Erfolg.
In seiner Suche nach sozialer Gerechtigkeit schloss er sich einer sozialistischen Oppositionsgruppe an. Nach seiner Gefangennahme wurde er 1849 zum Tode verurteilt, aber schließlich zu einer vierjährigen Verbannung in einem Strafgefangenenlager im sibirischen Omsk begnadigt. Zuvor musste er eine Scheinexekution durchleiden, eine Erfahrung, die ihn Zeit Lebens nicht mehr losließ. Sein Werk ist geprägt, durch existentielle und religiöse Fragen: Der Sinn des Leidens, die Frage nach Gut und Böse und besonders sein Verhältnis zu Jesus und der Gottesfrage beschäftigen ihn in einer Tiefe, wie sie selbst in den anderen großen Werken der Weltliteratur kaum noch erreicht wird.
Radikale Theologie
Nach Vollendung seines vielleicht größten Romans "Die Brüder Karamasow" blieb ihm nicht mehr viel Zeit. 59-jährig starb er am 9. Februar 1881 in St. Petersburg an den Folgen eines Blutsturzes. "Der Großinquisitor" ist ein Kapitel aus dem gerade erwähnten großen Roman. "Die Brüder Karamasow" ist, wie es der Radiobeitrag formuliert, "Dostojewskis innere Biographie". Dmitrij, Iwan und Aljoscha sind die Personifikation dreier menschlicher Reifestufen, die auch Fjodor Michailowitsch Dostojewski durchlebt hat. Dies ist aber untrennbar mit seiner "Gier nach Gott", wie der Dichter selbst einmal formuliert hat, verbunden. So ist der Roman geprägt von einer radikalen Theologie, die sich den Aporien der Gottesfrage und - damit verbunden – der Existenz des Menschen stellt.
Die religiösen und existentiellen Fragen, die sein Gesamtwerk durchziehen, werden in diesem letzten Werk des genialen Dichters noch einmal verschärft. In den Fragen nach Wahrheit und Freiheit kumuliert das Denken des Dichters zu einem solchen Höhepunkt, als ob er geahnt hätte, dass dies sein letztes Werk ist. So ist es verständlich wenn Siegmund Freud, selbst keineswegs ein im eigentlichen Sinne religiöser Mensch sagt: "'Die Brüder Karamasow' ist der großartigste Roman, der je geschrieben wurde, die Episode des Großinquisitors eine der Höchstleistungen der Weltliteratur." Diese "Höchstleitung der Weltliteratur" ist also ein Kapitel aus Dostojewskis "Die Brüder Karamasow", es hat aber eine solche Dichte, dass es auch gut für sich stehen kann.
Die Handlung
Die beiden Brüder Iwan und Aljoscha Karamasow sitzen in einem Restaurant. Iwan möchte seinem Bruder eine Dichtung erzählen, die er sich ersonnen habe: Die Geschichte vom Großinquisitor.
Zeitgenössisches Porträt von Papst Pius V. (1566 bis 1572). Er war Dominikaner, wurde 1557 Kardinal und 1558 Großinquisitor.
Zur Zeit der spanischen Inquisition ist Jesus unter die Menschen zurückgekehrt. Der alte Großinquisitor, der ihn aufgreift, nimmt ihn gefangen. Jesus soll auf den Scheiterhaufen. Zunächst will der Großinquisitor Jesus aber noch verhören. Dieses Verhör ist freilich ein seltsames, denn Jesus kommt nicht zu Wort, denn, wie der alte Mann ausführt, habe dieser zu seiner Zeit bereits alles gesagt. Da Jesus seine Kirche allein gelassen habe, müssten nun der Großinquisitor und der Klerus die Kirche und die gesamte Menschheit unter Kontrolle halten, denn ohne diese Kontrolle könne der Mensch nicht leben. Nun stellt er die Fähigkeit des Menschen infrage, in Freiheit leben zu können. Sie läge nicht in der Natur des Menschen und würde deshalb zum Chaos führen. Um dies zu verhindern müssten Menschen wie eine Herde Schafe geführt werden und diese Aufgabe, dies schwere Last obliege dem hohen Klerus und natürlich dem Großinquisitor selbst.
Unfreie Freiheit
Dostojewski beleuchtet und verdunkelt zugleich die immer wieder aktuelle Frage nach der Freiheit des Menschen, eine Frage, die, wie man unmittelbar einsieht, neben der religiösen auch eine äußerst politische Dimension hat. Ist die Freiheit des Glaubens und durch den Glauben eine religiöse und moralische Überforderung des einzelnen Menschen und führt sie eine Polis, ein politisches Gemeinwesen, in die Selbstzerstörung? Der Großinquisitor jedenfalls verteidigt seine Kirche und – wie er glaubt – auch die Menschheit gegen diese Ansprüche Jesu.
Der radikale Christ Fjodor Michailowitsch Dostojewski allerdings greift mit seiner Dichtung eben jene römisch-katholische Kirche des Großinquisitors an. Aber auch seine eigene, die russisch-orthodoxe Kirche bleibt bei näherem Hinsehen nicht verschont. Nicht zuletzt ist "Der Großinquisitor" auch ein Affront gegen das zaristische Russland. Die Offenheit des Endes zeigt aber auch, dass die Conditio humana die eigentliche Ursache für die Bestreitung der Freiheit ist. Der Mensch, der die ihm aufgegebene Freiheit nicht oder nur destruktiv nutzen kann, ruft die Wächter der Ordnung auf den Plan, die aber auch nur Sterbliche und mit dem Übermaß an Freiheit hoffnungslos überfordert, wenn nicht gar in Versuchung geführt, sind.