Franz Grillparzer Ein Nationaldichter wird installiert
Am 1. Januar 1871 schließen sich die süddeutschen Staaten dem Norddeutschen Bund an. Mit der Annahme einer gemeinsamen Bundesverfassung ist das Deutsche Reich formell gegründet. Im nun geeinten Nationalstaat spielt Österreich keine Rolle mehr. Bismarck hat dem Erzrivalen Preußens den Stuhl vor die Tür gestellt. Die deutschsprachige Bevölkerung des ehemaligen Bundesstaates ist damit quasi auf einen Schlag ausgebürgert.
Ein Familienausschluss und seine Folgen
Die Reichsgründung unter Ausschluss des Habsburger Hauses, das jahrhundertelang die deutschen Kaiser gestellt hatte, stürzt Österreich in eine tiefe Identitätskrise. Ein Land, das sich von jeher als Mitglied der Familie deutscher Stämme begriffen hat, ist plötzlich aus dieser Familie ausgestoßen und muss sich nun als eigene Nation neu erfinden. Was jetzt not tut, ist ein starkes Österreichbewusstsein, das den Makel des Abgeschoben-, Ausgeschlossen- und Sitzengelassenseins neutralisiert. Es gilt, den Reichsdeutschen, die Schiller und Goethe als Gravitationszentren deutscher Kultur und deutscher Identität von nun an für die eigene Tradition reklamieren, durch eine ebenbürtige, geistig-kulturelle Großgestalt auf Augenhöhe zu begegnen.
Späte Ehrung für einen fast Vergessenen
Franz Grillparzer ist aus vielen Gründen der ideale Kandidat für den vakanten Spitzenposten eines österreichischen Identitätsstifters. Dass er schon seit mehr als 30 Jahren kein wesentliches Werk mehr veröffentlicht hat, eigentlich nur noch für die Schublade schreibt, hochbetagt und obendrein auch nicht sonderlich erpicht auf Lobhudeleien ist, tut der Sache keinen Abbruch. Er bringt einfach alles mit, was ein deutschtrutziges nationales Kulturpatronat erfordert: Mit seinem bereits 1825 geschriebenen Stück "König Ottokars Glück und Ende" hat er die dramatisierte Gründungslegende des Habsburgerreichs und einen rauschhaften Lobpreis Österreichs vorgelegt. Als Graf Radetzky 1848 ein Heer italienischer Unabhängigkeitskämpfer niederschlägt, huldigt er dem siegreichen Feldherrn in schmissigen Versen. Eventuelle Irritationen durch Werk und Lebenslauf sind nach dem Rückzug aus der Öffentlichkeit längst verjährt und vergeben. Staatsgefährdendes war seine Sache ohnehin nie und ist auf Grund des hohen Alters nicht mehr zu befürchten.
Wohl dem Lande, dem ein eigener Dichter erwächst
Den Ausschlag gibt jedoch vielleicht die Gunst der Stunde: Grillparzer vollendet am 14. Januar 1871 sein achtzigstes Lebensjahr. Das passt und könnte besser nicht passen! Zwei Wochen nach der Gründung des Deutschen Reichs bietet eine Vielzahl öffentlicher Grillparzerfeiern die schlechthin ideale Plattform für die Ausrufung eines neuen Österreichbewusstseins. Ein Beispiel für die Tonlage, die Stoßrichtung und das Vereinnahmungspathos der Grillparzerbegeisterung des Jahres 1871 ist die Ehrenrede des ehemaligen Burgtheaterdirektors Heinrich Laube. Wie andere Laudatoren auch greift er bei einer Festsitzung des Schriftstellervereins Concordia genüsslich in die Vollen: "Unser Dichter! Mit Stolz sagen wir: Unser Dichter. Mit gerechtem Stolze! Franz Grillparzer ist ein Österreicher vom Wirbel bis zur Zehe, in verborgensten Falten seines Hirnes, im stillsten Winkel seines Herzens. Jeder Hauch in ihm athmet aus der Seele des österreichischen Landes und Wesens. Der große Gedanke, welcher das Reich Österreich geschaffen, lebt und webt in ihm…. Wohl dem Lande, dem ein eigener Dichter erwächst. […] Franz Grillparzer darf Wolfgang Göthe und Friedrich Schiller zunächsttreten, [… ein] Oesterreicher neben dem großen Franken und dem großen Schwaben."
Österreich als kulturelle Eigenmarke
Darum geht es also! Das ist die Geburtsstunde des Nationaldichters Grillparzer, der eine schmerzliche Wunde leichter erträglich machen und der "reichsdeutschen" Kulturdominanz Paroli bieten soll. Aber vielleicht hätten sich die dröhnenden Ehrenredner zu Herzen nehmen sollen, was Grillparzer 1857 unter dem Stichwort "Nationalliteratur" festhält: "Geschrei von Nationalität in Deutschland. Was man als Gebot ausspricht, hat man nicht. Völker, die Nationalität haben, sprechen nicht davon. […] Bei zunehmender Bildung werden sich die Menschen […] immer ähnlicher. Zugleich liegt es im Wesen der Bildung, sich jedes Vortreffliche möglichst anzueignen. Die Nationalität in schärfster Ausprägung setzt daher einen Zustand der Roheit und Isolierung voraus."