Zensur in der Literatur Zensur im Namen der gottgewollten Ordnung
Ganz klar: Die Geschichte vom Baum der Erkenntnis erschöpft sich nicht im Präzedenzfall einer Urzensur. Dass sie theologisch, mythisch und philosophisch unendlich viel tiefer und reicher ist, muss man nicht eigens betonen. Trotzdem liefert sie ein Funktionsmodell für alle Formen weltlicher und geistlicher Beschneidung der Meinungsfreiheit.
Die Hüter der Orthodoxie
Hinter jeder der vielen historisch belegten Zensurvarianten ist die Vorstellung einer Schranke wirksam. Auf der einen Seite dieser Schranke stehen all jene, die zwischen Gut und Böse unterscheiden können. Diese Eliten kennen etwas, das alle anderen nicht kennen: Den großen Plan, die Gesamtschaue, das Heilige und Verborgene. Sie sind die Eingeweihten, die Gesalbten, die Hohen Priester des innersten Zirkels. Göttliche Erwählung, Geburt, Salbung, Weihe und Prüfung haben diese Eliten in die Nähe des Heiligen gerückt. Sie haben die Gesetze der ewigen Ordnung geschaut. Nun dürfen sie im Namen der Gottheit sprechen und sind berufen, das Heilige gegen Beschädigung, Profanierung oder Veränderung zu verteidigen. Weil der Fortbestand der gegebenen Ordnung mit dem Fortbestand der Welt identisch ist, ist jedes Mittel seiner Sicherung nicht nur erlaubt, sondern vielmehr unbedingt geboten.
Das Heer der Unmündigen
Auf der anderen Seite der Kompetenzschranke lebt das Heer der Unmündigen. Wer ihm angehört, ist weder befugt noch fähig, selbst zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Die Unmündigen sind nicht in der Lage, das Große und Ganze zu überblicken. Sie kennen nur ihre kleine, eigensüchtige Perspektive, aber nicht den umfassenden Plan. Da ihre Kompetenz nicht für ein eigenes Urteil ausreicht, muss man ihnen sagen, was gut und was schlecht für sie ist. Daher sind die Unmündigen nicht nur auf die Weisung und Führung durch die Wissenden angewiesen. Sie schulden außerdem Gehorsam. Und das zu ihrem eigenen Schutz. Würde man nämlich ihrem Unverstand und ihrer Inkompetenz die Zügel lassen, wäre die Ordnung und damit alles gefährdet. Zensur ist also keine Willkür. Sie ist ein Akt der Gnade und Fürsorge für die Unmündigen und eine Verpflichtung, eine Bürde für alle jene, die aufgrund ihrer Kompetenz die Verantwortung für das Große und Ganze tragen.