Zensur in der Literatur Der langsame Rückzug der Zensoren
Solange die irdische Ordnung als gottgegeben und die irdischen Gewalten als von Gott eingesetzt gelten, ist jede Form der Kritik in letzter Konsequenz ein Sakrileg. Gotteslästerung, Gottlosigkeit und Frevel sind eine Gefahr für die Allgemeinheit schlechthin. Sie beschwören den Zorn und die Rache der Götter oder Gottes herauf, sie bedrohen die kosmische oder staatliche Stabilität, sie müssen vermieden, verhindert, vereitelt werden. Es ist daher kein Wunder, dass Zensurmaßnahmen zunächst vor allem den religiösen Bereich betreffen.
Das gilt für die Antike ebenso wie für das christliche Abendland. Das erste historisch fassbare Opfer einer Zensur im Namen der heiligen Ordnung ist der griechische Philosoph Protagoras. Seine Werke werden 411 vor Christus in Athen aufgrund ihres gottlosen Charakters öffentlich verbrannt und der Autor - zum Glück in Abwesenheit - zum Tode verurteilt. Jahrhunderte später übernimmt die mächtig gewordene Kirche Christi den frommen Brauch zum Schutz eigener Glaubenswahrheiten. Die Begründung bleibt dieselbe: Die Majestät Gottes und seiner Selbstoffenbarung darf keinesfalls in Frage gestellt und schon gar nicht besudelt werden. Allzu vieles Grübeln, allzu viel neugieriges Hinterfragen und Wissenwollen steht schnell im Verdacht der Ketzerei. Die Früchte des Baums der Erkenntnis von Gut und Böse sind noch immer für den Schöpfer reserviert. Dem Menschen sind sie nicht zugemessen. Warum auch? Denn was gut und was böse ist, was frommt und schadet, ist ihm ein für alle Mal verkündigt. Dem ist aus eigener Klügelei nichts hinzuzufügen oder abzuschneiden. Jedes Streben über die in der heiligen Schrift offenbarten Erkenntnisse hinaus ist ein Werk gefährlichen Hochmuts und durch strengste Zensur unverzüglich einzudämmen.
Sapere aude!
Das Dogma einer nicht zu hinterfragenden Offenbarungswahrheit bewahrt seine Gültigkeit für lange Zeit. Doch allmählich wird es schütter, die Menschen trachten, die Vormundschaft von Staat und Kirche abzustreifen. Schließlich erscheint 1784 ein Text, der das System der Meinungskontrolle nicht nur in Frage stellt, sondern zu seiner Überwindung aufruft. In diesem Text antwortet Immanuel Kant auf die Frage, was Aufklärung sei. Er findet eine ebenso knappe wie kristallklare Antwort: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. 'Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!' ist also der Wahlspruch der Aufklärung."
Der lange Weg zur Mündigkeit
Das sitzt und ist doch ein Auftrag für viele Generationen. In Deutschland dauert es ziemlich genau zweihundert Jahre, bis die volle Mündigkeit errungen ist. Bevor es so weit ist, rollen zwei Zensurwellen über die Deutschen hinweg, die das Maß der sonst gebräuchlichen Gängelung bei weitem übersteigen. In den gärenden Jahren zwischen 1817 und 1848 etabliert sich ein Zensur- und Spitzelsystem, das jeder Freiheit des Denkens, Redens und Schreibens den Kampf ansagt. Von 1933 bis 1945 ist die freie Meinungsäußerung im nationalsozialistischen Terrorstaat schließlich vollends unmöglich geworden. Wer sie dennoch wagt, zahlt, wie etwa die Mitglieder der Weißen Rose, mit dem Leben. Erst das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ermöglicht, was Kant als Inbegriff der Mündigkeit des Menschen definiert: Sich seines Verstandes frei und ohne Leitung zu bedienen!