Ja, so sans? Der grobe Bayernlackl
Mehr als 35 Millionen Gäste kommen jährlich nach Bayern und hier ins Schwärmen: Diese Berge, Seen, Schlösser und Wälder! Der Barock, die Zwiebeltürme, das Bier, die schenTrachten! Die global beglaubigte Attraktivität des Freistaats beruht aber nicht nur auf landschaftlichen oder architektonischen Reizen. Nicht weniger wichtig ist die geschickte, vielkanalig-multimedial inszenierte Vermarktung einer ganz speziellen bayerischen Lebensart. Was dieses weißblaue Savoir-Vivre im Einzelnen ausmacht, weiß zwar niemand so genau, aber das Image funktioniert: Bayern ist ein Gesamtkunstwerk. Nicht nur das Land, seine Schönheit und sein kultureller Reichtum machen eine Reise ratsam; auch seine irgendwie "besonderen", "urigen", "authentischen" Bewohner gelten als aufgeschlossen, umgänglich, manchmal vielleicht ein bisschen wunderlich, aber unterm Strich liebenswürdig und angenehm.
Ein derbes, räuberisches Bergvolk
Das war nicht immer so. Eigentlich war es anderthalb Jahrtausende lang genau andersrum: Seit den ersten spätantiken Erwähnungen der Bajuwaren bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts ist ein ausgemachtes Bayern-Bashing angesagt. Den Anfang macht Venantius Fortunatus, ein Pilger aus Norditalien, der im Jahr 565 die Alpen auf dem Weg nach Tours überquert. Vermutlich aufgrund schlechter Erfahrungen warnt er andere Wallfahrer vor Begegnungen mit Vertretern des unzivilisierten Stammes und gibt damit den Tonfall für seine literarischen Nachfolger vor. Tausend Jahre später ist das stereotype Bild noch immer düster, selbst aus der Binnenperspektive. Als sich Johannes Turmair, genannt Aventinus, 1521 daran macht, seine "Bairische Chronik" zu verfassen, stellt er den Stammesgenossen ein miserables Zeugnis aus. Versoffen sind sie, die Baiern, verfressen, faul, triebhaft, zügellos, abergläubisch, spielsüchtig, rauflustig, kurz: ungewaschene Bauernlackl und echte Zorngickerl.
Der Sumpf des Aberglaubens
Damit haben die Baiern für lange und in Spuren bis heute ihr Image weg. Das Bild vom hässlichen, tumben, bierkomatösen, lodenderben Urvieh aus dem Alpenraum hält sich hartnäckig und wird immer wieder aufgefrischt. Besonders hart schlagen protestantische Aufklärer im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in diese Kerbe. Sie stilisieren Bayern zum warnenden Exempel für die Auswüchse der Herrschaft einer machtgeilen, ruchlosen, prunksüchtigen, aufklärungsfeindlichen Ordens- und Weltgeistlichkeit, die das Volk in Unwissenheit und Finsternis niederhält.
Dumpfer Süden, heller Norden
Größten Einfluss auf das miese Bayernrenomee haben die 1783 erschienenen "Briefe eines Reisenden Franzosen über Deutschland" und die 1790 nach demselben Strickmuster veröffentlichte "Reise eines Engelländers durch Mannheim, Baiern und Oesterreich nach Wien". Vor allem die "Franzosen-Briefe" machen sofort Furore und werden rasch in zahlreiche europäische Sprachen übertragen. Dass die "Briefe" in großen Teilen mehr Kolportage als Reportage sind, dass sie keineswegs von einem reisenden Franzosen, sondern vom deutschen Journalisten Johann Kaspar Riesbeck geschrieben wurden, tut ihrem Erfolg keinen Abbruch. Riesbeck und Carl Ignaz Geiger, Autor der ebenfalls fingierten "Reise eines Engelländers", haben auch gar nicht die Absicht, sachlich zu berichten. Es geht ihnen um Weltanschauung und Politik, es geht darum, die Auswirkungen des Mönchs- und Pfaffenwesens möglichst drastisch auszumalen.
Liederlichkeit ist ihr Hauptzug
Um die Glorie des vernunftgeleiteten, protestantischen Nordens gegen diese Folie möglichst vorteilhaft herauszustellen, bedarf es schärfster Kontraste sowie einer flotten Feder, die Zuspitzungen, Übertreibungen, Allgemeinplätze und selbst Karikaturhaftes nicht scheut. Johann Kaspar Riesbeck hat das erforderliche Rüstzeug und liefert ohne falsche Zimperlichkeit. Die von ihm gezeichnete bayrische Geistlichkeit ist gierig, verschlagen und bigott, der Adel bis auf wenige Ausnahmen "im ganzen Umfange des Wortes Pöbel, ohne alles Gefühl von Ehre". Die gemeinen Leute sind dick, verfressen, versoffen, verbuhlt. Am schlechtesten kommen die Bauern weg. Sie sind dumpf, rauflustig, verlottert, abergläubisch und leben unter übelsten Bedingungen: "Das Landvolk ist äußerst schmutzig. Wenn man sich einige Stunden weit von der Hauptstadt entfernt, sollte man die Höfe der meisten Bauern kaum für Menschenwohnungen halten. Viele haben die Mistpfützen vor den Fenstern ihrer Stuben, und müssen auf Brettern über dieselbe in die Thüre gehn. – Kurz, Liederlichkeit ist der Hauptzug des Bayern, vom Hofe an gerechnet bis in die kleinste Hütte." Schuld an den Missständen sind "Zügellosigkeit, Trunksucht, Religionsdummheit, Aberglaube" und eine übermächtig "Pfaffenherrschaft".