Ungewollt schwanger um 1700 Der Staat und der Sex
Die ab dem 16. Jahrhundert verschärften Heiratshindernisse sind ein massiver Eingriff in die Persönlichkeitssphäre, wie er einschneidender kaum sein könnte. Da jeder vor- und außereheliche Geschlechtsverkehr den Straftatbestand der Leichtfertigkeit erfüllt, haben Ehelose keine legale Möglichkeit, ihre Sexualität auszuleben. Das gilt nicht nur auf dem Land. Auch in den Städten ist an ein außer- oder voreheliches Zusammenleben nicht zu denken. Unverheiratete Paare können keinen gemeinsamen Wohnraum anmieten, da alle am "Unterschlaiff" Beteiligten, also auch der Vermieter, mit empfindlichen Strafen rechnen müssen. Weil den Anzeigern leichtfertiger Personen zehn Prozent der Geldbuße zustehen, ist der Anreiz zur effektiven Sozialkontrolle entsprechend hoch.
Remedirn mit Schröcken und Straffen
In Bayern ist die Eindämmung der Leichtfertigkeit eine klare Chefsache. Herzog Maximilian I. ist ein strenggläubiger, von Jesuiten erzogener Katholik, der sich, das Land und seine Herrschaft gänzlich der Gottesmutter weiht. Dem pflichtbesessenen, arbeitswütigen Landesherrn ist alles ein Gräuel, was das "hochverbotene Laster der Leichtfertigkeit und unehelichen Schwängerungen“ begünstigt. Im "Landtrecht" von 1616 und etlichen nachfolgenden Mandaten kämpft Maximilian gegen das "uberhandnemmende Übel" entschlossen an.
Auf dem Land, da haust die Sünd'.
Dringlichster Besserung bedürftig erscheinen ihm das "junge Volck insgemain" und allen voran das "ledige Bauersgesind auff dem Land". Hier sind infolge des Kriegsgeschehens, der Herrschaftsausdünnung und der allgemeinen Sittenverderbnisse untragbare Zustände eingerissen, die Gott belaidigen und heftiglich erzürnen. Im Verdacht buhlerischer Anbahnung stehen sämtliche Freizeitaktivitäten, die ledige Männer und Frauen zusammenbringen, vor allem aber "das nächtliche Außlauffen der Manns= und Weibspersonen an die Haingärten", "das Zusammenlauffen an haimbliche Schlüpffwinckel und verdächtige Ort", das allzu vertraute Zusammenhocken in den Spinnstuben ("Gunckel-Stuben"), und "insonders das nächtliche Fensterlein (wie sie es ins gemain zu nennen pflegen)".
Der Herzog kehrt mit eisernem Besen.
Maximilians "Landt und Policy-Ordnung" schiebt allen zur Leichtfertigkeit aufreizenden Gelegenheiten einen Riegel vor. Das "Haingartenlaufen", "Gunckeln" und "Fensterln" wird untersagt, das Tanzen ist nur an Sonn- und Feiertagen für wenige Stunden erlaubt, das Drücken und Aufheben der Frauen hat dabei ganz zu unterbleiben, um dem Versucher die Rechnung zu versalzen. Aufhören muss ebenso der Brauch, dass weibliche und männliche Dienstboten in einer Kammer schlafen. Für die Einhaltung der herzoglichen Disziplinierungsmaßnahmen stehen auch die Hausväter und Bauern gerade. Bei angezeigten und aufgeflogenen Verstößen werden sie unnachgiebig zur Rechenschaft gezogen.
Erziehen und Strafen
Wo die "vätterliche" Ermahnung des Fürsten nicht fruchtet, müssen "Schröcken und Straffe" die Sünder kurieren. Die Mandate des Herzogs stecken einen Bußrahmen ab, der den örtlichen Gerichten keine großen Spielräume lässt. Das Strafmaß hängt von der Art des Vergehens, dem Vermögen des Beschuldigten und der Deliktfrequenz ab. Ersttäter werden milder, Wiederholungstäter zunehmend härter bestraft. Wohlhabende zahlen höhere Geldbußen als Arme, damit die Strafe spürbar schmerzt. In der Regel ist die Geldbuße mit einer Haftstrafe verbunden, die von wenigen Tagen bis zu einigen Wochen dauern kann.
Vorgeführt und gedemütigt, aber entsühnt
Obendrein sieht der Strafkatalog eine Reihe sogenannter Schand- oder Ehrenstrafen als öffentliche Bloßstellung und Demütigung vor. Im Hintergrund steht auch hier die Vorstellung, dass das Private und das Öffentliche untrennbar miteinander verquickt sind, weil die Sünde des Einzelnen auf alle niederschlägt. Erst nach dem Abbüßen der privaten Schuld ist auch das Gemeinwesen insgesamt von der Schuld gereinigt. Was uns heute die individualistisch eingestellten Köpfe schütteln lässt, erlebt die frühneuzeitliche Gesellschaft als befriedende Entsühnung: Sobald Gott durch die öffentliche Buße versöhnt und der Gerechtigkeit genüge geleistet ist, ist die Sache abgetan und das Vergehen vollends vergeben.
Halsgeige, Schandkorb und Schandeisen
In Bayern sind mehrere Formen der Ehrenstrafe gebräuchlich. Noch heute, meist durch Mittelalterfeste bekannt, ist die Schand- oder Halsgeige. Sie umschließt den Hals und die hintereinander in Kopfhöhe gehobenen Handgelenke mit einer hölzernen, geigenförmigen Fessel. In diesem Stock stehen die Verurteilten an mehreren Tagen entweder vor einem Amtshaus oder vor der Kirchentüre. Während mit der Schandgeige ausschließlich Frauen für sexuelle Vergehen, zänkische Reden und Streitsucht gestraft werden, schließt man verurteilte Männer bevorzugt ins Halseisen oder in den wahlweise eisernen oder hölzernen Schandkorb. Eine mildere, über beide Geschlechter verhängte Ehrenstrafe ist die Auflage, an mehreren Sonntagen mit einer brennenden Kerze vor der Kirchentüre zu stehen. Zusätzlich kann das Gericht das Tragen eines Bußgewands oder das Entblößen der Arme verfügen.
Keine Milde für Unverbesserliche
Wiederholungstäter können keinesfalls auf Milde hoffen. Sie fallen der Hochgerichtsbarkeit anheim, die auch harte körperliche Strafen bis hin zur Todesstrafe verhängen kann. Mehrfach überführte Delinquenten werden mit Ruten geschlagen oder ausgepeitscht, müssen das Land auf fünf Jahre oder für immer verlassen und verlieren schlimmstenfalls ihr Leben.
Ausgegrenzt und abgestempelt
Ledige Mütter, die sich aus Liebe oder aufgrund eines falschen Eheversprechens mit einem Mann eingelassen und ein uneheliches Kind geboren haben, heißen in der Rechtssprache des 15. bis 18. Jahrhunderts "geschwächte Jungfrauen". Das Wort "geschwächt" drückt eine soziale Rangminderung aus: "Geschwächte Jungfrauen" sind ihrer Ehre beraubt, in Schande gebracht, im Wert gedrückt. "Ehrbar" wird eine geschwächte Jungfrau nur durch die Ehe mit dem Kindsvater oder einem Mann, der das Kind als sein eigenes annimmt. Dass die leichtfertige Mutter oder selbst die Schwangere zuvor dennoch ihre Strafe abbüßt, versteht sich von selbst.
Nehmen, was übrigbleibt
Falls eine Heirat ausgeschlossen ist, entweder, weil der Kindsvater eheunwillig, bereits verheiratet, unauffindbar oder anderweitig eheunfähig ist, steht den ledigen, alleinerziehenden Müttern eine dornige Zukunft bevor. Wenn sie Glück haben, kommen sie als Dienstboten und Mägde unter oder laufen in einer wohlhabenden Familie als "bucklige Verwandtschaft" mit. Andernfalls führt das Stigma einer "leichtfertigen Mutterschaft" wahlweise in die Prostitution, ins Armenhaus, ins Gefängnis und ins Elend allemal.
Meine Ruh' ist hin, mein Herz ist schwer.
Nimmt der Druck überhand, endet der abschüssige Weg nicht selten auf dem Richtblock. Die hohen Kindsmordzahlen des 18. Jahrhunderts zeugen von der Not all jener Frauen, die aus Furcht vor Ausgrenzung, Schande und Armut in eine Verzweiflungstat fliehen. Erst die Aufklärung schafft ein keimendes Bewusstsein dafür, welche verheerenden Folgen die Kriminalisierung außerehelicher Sexualität im Verbund mit Heiratsverboten und Abstiegs- und Ausgrenzungsängsten zeitigt. Nach heftigen Debatten werden am Ende des 18. Jahrhunderts zumindest die Schandstrafen für leichtfertige Ersttäter abgeschafft, im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts fallen schließlich die Strafen auf außerehelichen Geschlechtsverkehr. Der Weg bis zur völligen sexuellen Selbstbestimmung als selbstverständlichem Grundrecht ist jedoch noch weit und steinig.