Humanismus in Bayern Die Revolution der Wissenskultur
Bildung im humanistischen Sinn heißt vor allem Selbsterziehung durch das Studium klassischer Autoren und die Nachahmung der von ihnen vermittelten Vorbilder. Das verlangt allerdings, dass die Texte unverfälscht, vollständig und fehlerfrei verfügbar sind. Darum ist es im Spätmittelalter jedoch schlecht bestellt. Das Gros der vorliegenden Texte sind entweder unzuverlässige und verstümmelte Abschriften oder teils lückenhafte, teils verfälschte Übersetzungen griechischer oder hebräischer Originale. Das Übel hat Tradition. Viele Texte wurden in der Spätantike ins Lateinische übertragen und danach Jahrhunderte lang ohne Abgleich mit dem Originaltext immer wieder kopiert. So mancher Schreiber verstand gar nicht oder nur rudimentär, was er kopierte, und reproduzierte lediglich das Schriftbild. Andere Texte waren durch redaktionelle und zensierende Eingriffe oder durch Materialverlust und Schäden der Beschreibstoffe verdorben.
Handschriftenjäger heben Schätze der Antike.
Im 15. Jahrhundert werden sich immer mehr Gelehrte der Überlieferungsproblematik bewusst und beginnen, die Zuverlässigkeit antiker Texte zu überprüfen. Angetrieben wird dieser Prozess durch mehrere Faktoren. Zum einen durchkämmen "Handschriftenjäger" Kloster- und Dombibliotheken nach seltenen Manuskripten oder verschollenen Büchern der Antike, die nur als Titel oder Hinweis überlebt haben. Die systematische Suche hat Erfolg: Sie reichert die Textbasis innerhalb weniger Jahrzehnte mit einer Fülle bislang unberücksichtigter Textvarianten und Textergänzungen sowie einer Reihe bisher völlig unbekannter Schriften an. Zusätzlich bringen byzantinische Gelehrte, die vor den Osmanen nach Italien fliehen, bislang unzugängliche Werke in den Westen. Ein Großteil der griechischen Literatur ist damit erstmals in originalsprachlichen Ausgaben oder Übersetzungen zugänglich. Zu den neu erschlossenen Schätzen zählen die Epen Homers, die meisten Dialoge Platons oder die berühmten Dramatiker, Geschichtsschreiber und Redner.
Philologisch korrekte Textausgaben
Mit der Vergleichbarkeit unterschiedlicher Fassungen steht das Rüstzeug bereit, um Abschreibfehler Verschreibungen, Missverständnisse, Auslassungen, Fehl- und Schadstellen aufzuspüren und auszubessern. Zugleich ermöglicht der Zugriff auf einen griechischen oder hebräischen Urtext die Kontrolle und Verbesserung seiner Übersetzung ins Lateinische. Auf dieser philologischen Basis erarbeiten gelehrte Humanisten ab der Mitte des 15. Jahrhunderts bereinigte, verbesserte und ergänzte Neuausgaben antiker Klassiker, die durch den modernen Buchdruck mit beweglichen Lettern und moderne Verlagsunternehmen in ganz Europa rasch Aufnahme finden. Viele der von Humanisten erstellten Editionen sind bis heute einschlägig und nicht überholt.
Neue Wissenschaftsstandards entstehen.
Der Effekt der neuen Informationsfülle ist in seiner Tragweite kaum zu überschätzen: Sie beschleunigt zum einen die Verbreitung humanistische Ideen und zum andern setzt sie neue, auf Dauer nicht mehr hintergehbare Standards der Wissenschaftlichkeit und Wissensvermittlung. Wer künftig mithalten will, kann sich nicht länger nur auf gängige lateinische Übersetzungen stützen. Zumindest die humanistische Elite zieht nach Möglichkeit die ältesten Textzeugnisse heran und schöpft direkt aus den griechischen und hebräischen Quellen. Ad fontes! - zurück zu den Quellen! wird zum Motto der Reform des Wissenschaftsbetriebs. "
Der humanistische Blick auf die Bibel
Das Streben nach möglichst reinen, nicht durch Abschreiber und Kompilatoren verdorbene Textquellen beschränkt sich nicht auf Rhetorik, Dichtung und Philosophie. Sie erfasst auch die Bibel und die Theologie. 1516 beginnt die textkritische Sichtung der Heiligen Schrift mit einem Paukenschlag. In diesem Jahr veröffentlicht der Theologe Erasmus von Rotterdam (1469 - 1536) die griechische Originalfassung des Neuen Testaments im Druck. Das Novum Instrumentum omne ist in zwei Spalten gesetzt. Die linke enthält den griechischen Urtext, die rechte eine von Erasmus angefertigte Übersetzung ins Lateinische. Ergänzt wird das Werk durch mehrere hundert philologische und sachliche Anmerkungen. In seiner Widmung an Papst Leo X. (1475 - 1521, reg. ab 1513) erläutert Erasmus Anlass und Zweck seines Unternehmens: "Ich habe wahrgenommen, dass die Lehre, die zu unserer Erlösung dient, in einer viel reineren und lebendigeren Form zu finden ist, wenn sie vom Brunnen-Kopf oder der tatsächlichen Quelle anstatt aus Teichen und Flüssen genommen wird."
Der Beginn eines Wahrnehmungswandels
Das Erscheinen des Neuen Testaments in der griechischen Ursprungssprache ist nicht nur ein Glanzpunkt humanistischer Gelehrsamkeit, sondern eine epochale Leistung von immenser Strahlkraft und Tragweite:
- Das Monopol der Vulgata ist gebrochen. Die im 4. Jahrhundert nach Christus entstandene Übersetzung des griechischen Neuen Testaments ins Lateinische ist bis zur breiten Verfügbarkeit des griechischen Originaltextes die maßgebliche, de facto unantastbare Textgrundlage der Theologen und Priester. Die Zuverlässigkeit ihrer Textgestalt wurde weder hinterfragt noch angezweifelt.
- Mit der ersten gedruckten Ausgabe des griechischen Originals ist eine neue Referenz verfügbar. Sie tritt in Konkurrenz zur Vulgata und weist den bislang maßgebenden Text als korrekturbedürftig aus.
- Die Heilige Schrift wird durch den Nachweis von Übersetzungsfehlern und Missdeutungen der philologischen Textkritik unterworfen. Damit beginnt etwas Neues und bis dato völlig Unerhörtes: Kein Theologe kann sich von nun an auf wissenschaftlichem Niveau mit der Bibel beschäftigen, ohne den griechischen Text heranzuziehen. Die Kenntnis des Griechischen gehört fortan zur grundlegenden Fähigkeit eines gelehrten Theologen.
Auch wenn Erasmus nur griechische Handschriften aus dem 12. und 15. Jahrhundert benutzt und spätere Quellenfunde neue Erkenntnisse liefern, bleibt sein griechischer Urtext für lange Zeit die Grundlage für zahlreiche volkssprachliche Neuübersetzungen. Auch Luthers deutsche Übersetzung des Neuen Testaments von 1545 basiert nicht auf der lateinischen Vulgata, sondern auf der griechischen Textausgabe des Erasmus von Rotterdam.